Die Engländer können kein Elfmeterschießen? Manchmal schon, zum Beispiel am Samstagabend in Düsseldorf, wo sie im Viertelfinale der Fußball-Europameisterschaft mit 5:3 im Elfmeterschießen gegen die Schweiz gewonnen haben. Nach 120 Minuten hatte es 1:1 gestanden. Den finalen Elfmeter verwandelte Trent Alexander-Arnold, nachdem zuvor Manuel Akanji mit dem ersten Schweizer Elfmeter am englischen Torwart Jordan Pickford gescheitert war. Für die Engländer war es im sechsten Elfmeterschießen bei einer EM aber auch tatsächlich erst der zweite Erfolg. Der erste datiert von 1996, als sie im Viertelfinale auf diese Art die Spanier rausgeworfen hatten. „Das Team hat viel Charakter gezeigt, viel Glaube, viel Überzeugung, viel Herzblut auch“, sagte Alexander-Arnold nach dem Spiel erleichtert.
Kleine Anekdote am Rande: Auf der Trinkflasche von Pickford klebte ein Spickzettel mit der Überschrift: „Schweiz Elfmeterschützen“, darauf 18 Einträge. Für Akanji lautete der Tipp auf dem Zettel: „dive left“, links unten. Genau dorthin schoss der einstige Dortmunder, es war der einzige Fehlschuss des Abends. Fotos der Flasche wurden nach dem Sieg vielfach in den Sozialen Medien geteilt.
Während die Engländer ihren Einzug ins Halbfinale überschwänglich feierten, waren die Schweizer verständlicherweise deprimiert. Als die Schweiz im Fußball letztmals gegen England gewonnen hat, hieß der englische Mittelstürmer noch Kevin Keegan. Nicht nur britische Fußballhistoriker und ältere Fans des Hamburger SV wissen: Das ist ewig her! Am 30. Mai 1981 haben die Schweizer in Basel ein WM-Qualifikationsspiel gegen England 2:1 gewonnen – und danach in 13 Versuchen binnen 43 Jahren keines mehr. Am Samstag probierten sie es vergeblich zum 14. Mal. Noch nie war die Schweiz bei einer EM oder WM in einem Halbfinale.
Im dritten Viertelfinalspiel dieser EM gab es die dritte Verlängerung – und im zweiten von dreien ein Elfmeterschießen. Eine Viertelstunde vor dem Ende der regulären Spielzeit hatte Breel Embolo die Schweizer 1:0 in Führung gebracht, fünf Minuten später glich Bukayo Saka für die Engländer zum 1:1 aus. Insgesamt hatten die Schweizer gegen erneut maue Engländer die besseren Chancen gehabt, müssen sich aber vorwerfen, ihre Möglichkeiten nicht konsequent genutzt zu haben.
So vielversprechend das Spiel aber begonnen hatte – es verflachte bald
Ein über weite Strecken nur mittelprächtiges Spiel hatte vielversprechend begonnen. Beide Mannschaften schienen anfangs gewillt, sich einen ordentlichen Schlagabtausch zu liefern. Das lag gewiss daran, dass einerseits der Schweizer Nationaltrainer Murat Yakin vor dem Spiel den Fanblock abgeschritten und von drunten beidarmig allerhand La-Ola-Wellen in Gang gesetzt hatte. Und dass andererseits auf der Ehrentribüne der englische Prinz William stand und mit seiner royalen Präsenz dazu ermutigte, dass die englischen Spieler sich nicht noch einmal ein solch maues Spiel leisten mochten wie im Achtelfinale. Da hatten sie gegen die kleine Slowakei erst 144 Sekunden vor dem Ende einer siebenminütigen Nachspielzeit das Turnier-Aus abgewendet.
Mit einem Prinzen in der Loge durfte man solche Schwächen nicht zeigen, aber auch keine vulgären Gesten wie es Jude Bellingham im Achtelfinale nach seinem Treffer kurz vor dem Schlusspfiff getan hatte. Die Uefa hat ihn darob zu einer Geldstrafe von 30 000 Euro und einem Spiel Sperre auf Bewährung verdonnert – und so viel darf man verraten: Bellingham hat am Samstag keine obszönen Scharaden gezeigt, die dem Prinzen droben auf der Tribüne die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätten.
So vielversprechend das Spiel gegen die Schweiz aber begonnen hatte – es verflachte bald. Im K.-o.-Modus lautet das Motto bekanntlich Safety First, und das zelebrierten beide Mannschaften über weite Strecken. Torchancen waren lange ebenso eine Mangelerscheinung wie spektakuläre Spielszenen. Die lange Zeit einzige gelbe Karte hatte der Schweizer Fabian Schär nach einer halben Stunde gesehen wegen eines taktischen Fouls gegen Bellingham. In der 67. Minute bekam Harry Kane Gelb für ein übertriebenes Zerren am Schweizer Manuel Akanji. Am Ende gab es drei Verwarnungen in einem recht pezifistischen Spiel.
Doch dann erlebte die Partie plötzlich eine unverhoffte Beschleunigung. Die Engländer hatten den Schweizer Torwart Yann Sommer noch nicht ein Mal geprüft, als die Schweizer in der 75. Minute mit 1:0 in Führung gingen. Von rechts spielte Schär ins Zentrum auf Dan Ndoye, der den Ball vor das Tor verlängerte und Embolo diesen am zweiten Pfosten über die Torlinie spitzeln sah.
Die Schweizer träumten jetzt akut von ihrem ersten Halbfinale, auch Kapitän Granit Xhaka, der trotz einer Verletzung spielte. „Ich war am Montag im MRT, dabei ist ein Muskelfaserriss diagnostiziert worden“, sagte der Profi von Bayer Leverkusen: „Ich habe gespürt, dass die Mannschaft mich braucht und ich wollte helfen.“
Doch es dauerte nur fünf Minuten, ehe die Engländer als Reaktion auf das Gegentor ihre Trägheit ablegten und in der 80. Minute durch Saka mit einem schönen Schlenzer zum 1:1-Ausgleich kamen. Nun wirkte das Spiel, als habe jemand am Drehregler das Tempo erhöht. Um die Verlängerung kam man gleichwohl nicht herum. In dieser hatten am Ende die aktiveren Schweizer die deutlich besseren Chancen, doch sie nutzten sie nicht. Und so ging es ins Elfmeterschießen.