Nach dem Sieg im Elfmeterschießen sank Gareth Southgate vor Erleichterung auf die Knie, als hätte er den letzten Elfer für England selbst verwandelt. Der Nationaltrainer ist immerzu um Haltung am Spielfeldrand bemüht, aber der Viertelfinalerfolg gegen die Schweiz am Samstagabend brachte ihn aus der Fassung. Er riss die Arme in die Luft, ballte die Hände zu Fäusten – und dann schrie er sein Glück hinaus, als sei soeben das Fußballland neu geboren worden. War es ja sogar. Im Grunde war ein Wunder geschehen: Die in der Vergangenheit so häufig im Shootout unterlegenen Engländer hatten ernsthaft alle verdammten fünf Elfmeter verwandelt. True story!
Englands 5:3 im Elfmeterschießen gegen die Schweiz, dem ein 1:1 nach regulärer Spielzeit und Verlängerung vorausgegangen war, glich einem Paradigmenwechsel für die Fußballnation. „Ist das ein neues Großbritannien?“, fragte James Graham auf X, der Drehbuchautor des Erfolgsdramas „Dear England“, in dem er entlang des Nationaltrainers Southgate die englische Fußballseele erkundet hatte. Southgate bot sich an als Protagonist, weil er einst als Spieler im EM-Halbfinale 1996 gegen Deutschland den entscheidenden Elfer versemmelt hatte. Doch nun ist ebendieser Southgate ernsthaft nur noch zwei Spiele davon entfernt, mit England erstmals die EM zu gewinnen. Am Mittwoch geht es im Halbfinale gegen die Niederlande.
Der Schmerz von einst hat Southgate angetrieben; er ist angetreten, das nationale Penalty-Trauma zu überwinden. Anders als seine Vorgänger, die immer davon sprachen, dass Penaltys Glückssache seien, näherte sich Southgate dem Elferschießen wissenschaftlich und psychologisch. Er informierte sich über alle möglichen Facetten bei Strafstößen und ließ das Prozedere immer und immer wieder im Training simulieren. Er ging so detailversessen vor, dass es nicht verwundern würde, käme heraus, dass Southgate mit seinen Spielführern auch deren Verhalten beim Münzwurf einstudiert hat, der darüber entscheidet, welches Team zuerst antritt und auf welches Tor geschossen wird. Bei der WM 2018 war Southgate erstmals erfolgreich in dieser Mission, seine Mannschaft schlug Kolumbien im Achtelfinale vom Punkt.
Warum nur wechselte Southgate Harry Kane aus – den mutmaßlich sichersten Schützen?
Als am Samstag die Verlängerung lief, sendete Southgate klare Zeichen. Er wollte dieses Elfmeterschießen mehr als eine Erhöhung des Risikos in der Offensive. Was manche Zuschauer dennoch verwunderte: Ziemlich selbstbewusst wechselte er Harry Kane aus, seinen mutmaßlich sichersten Schützen vom Punkt. Doch den Kapitän plagten Krämpfe. Als der Trainer dann vor dem Elfmeterschießen ein letztes Mal seine Spieler um sich versammelte, wirkte der Teamkreis wie die Mitte eines Orkans. Außen herumtobte die Hektik, aber innen drin herrschte Gelassenheit. Southgate nominierte die Schützen, bestimmte die Reihenfolge. Und wählte dabei ausschließlich diejenigen aus, die auch in ihren Vereinen regelmäßig zu Elfmetern antreten.
Das Ergebnis war ein Elfmeterschießen in Perfektion. Die Namen der erfolgreichen Schützen dürften sich nun ins nationale Gedächtnis einbrennen – und auch ihre Reihenfolge: Cole Palmer. Jude Bellingham. Bukayo Saka. Ivan Toney. Trent Alexander-Arnold.
Obwohl sich ihre Elfmeter in der konkreten Ausführung selbstverständlich unterschieden, so war deren Ablauf immer derselbe. Die Spieler gingen mit viel Ruhe in den Strafraum, legten den Ball ab – und dann konzentrierten sie sich auf ihre jeweils durchchoreografierten Rituale.
Am wohl interessantesten war jenes von Toney, der für Kane eingewechselt worden war. Der Angreifer machte drei abgezählte Schritte nach hinten. Atmete tief durch. Bewegte sich fast in Zeitlupe auf den Ball zu. Zu keinem Zeitpunkt richtete Toney die Augen auf den Ball. Er starrte nur den Torwart an. Weil der Schweizer Goalie Yann Sommer abwartete und sich nicht für eine Seite entschied, musste Toney agieren: Er schoss den Ball aus dem Fußgelenk in die linke untere Torecke – so platziert und kraftvoll, dass Sommer nicht hinkam. Bei der Ausholbewegung fiel auf, wie weit der 28-Jährige seinen linken Arm abspreizte, um überhaupt das Gleichgewicht zu halten. Zu seiner ungewöhnlichen Technik sagte er später lapidar, er habe bloß getan, was er immer tue. Die Herausforderung hatte für ihn vor allem darin bestanden, dass er zuvor kaum einen Ballkontakt hatte.
Besonders der Elfer von Saka erfasste das Mutterland des Fußballs mit Stolz.
Ähnliche Widrigkeiten mussten seine Teamkollegen überwinden: Palmer trug die Verantwortung des ersten Schusses; Bellingham konnte vor Erschöpfung kaum noch laufen; Saka kämpfte mit der Erinnerung an einen verschossenen Elfmeter im verlorenen EM-Finale 2021 gegen Italien, nach dem er rassistisch angefeindet worden war. Und Alexander-Arnold ist im Nationaltrikot meist nur Reservist, wie bei dieser EM, nachdem er nach den ersten zwei Turnierspielen aus der Startelf genommen worden war. Nacheinander schossen sie trotzdem den Ball derart selbstverständlich ins Netz, als hätte gar kein Yann Sommer auf der Linie gestanden: links unten, rechts unten, rechts unten, links unten – und links oben. Im englischen Fernsehen schmachtete der Experte Alan Shearer und sagte, Druck sei nur etwas für Reifen.
Besonders der Elfer von Saka erfasste das Mutterland des Fußballs mit Stolz. Vor drei Jahren hatte er nach seinem Fehlversuch in den Armen seines Trainers bitterlich geweint. Diesmal war er erneut den Tränen nahe, aber aus Freude. Nach dem Abpfiff blieb er zunächst allein am Mittelkreis zurück. Saka war nun ganz bei sich. Doch Southgate herzte ihn wie sonst niemanden auf dem Platz. Mit seinem Ausgleichstor in der 80. Minute hatte der Flügelstürmer die Verlängerung ja erst erzwungen, nachdem Breel Embolo die Schweizer fünf Minuten zuvor in Führung gebracht hatte.
Bei Akanji hieß die Anweisung: „Dive left“. Pickford sprang nach links und hielt.
Auf Instagram postete Jadon Sancho ein Foto von Saka mit dessen Auszeichnung zum Matchwinner. Er sei so stolz auf ihn, kommentierte der von Manchester United zu Borussia Dortmund verliehene Angreifer. Ergreifend fügte Sancho hinzu: „You did it for me and Marcus, brother!“ Du hast den Elfer auch für mich und Marcus verwandelt. Er meinte sich und seinen Kollegen Marcus Rashford. Beiden erging es im Elfmeterschießen des 2021er-Finales wie Saka, für diese EM waren sie nicht in den England-Kader berufen worden.
Weil die Schützen so großartig waren, übersah man fast die exzellente Leistung von Jordan Pickford. Englands Torwart schuf die Basis für den Sieg nach fünf Durchgängen, indem er gleich den ersten Schweizer Versuch von Manuel Akanji parierte. Englands Analysten hatten ihm für das Elferschießen eine spezielle Trinkflasche angefertigt, auf dem die bevorzugten Ausführungen der gegnerischen Schützen notiert waren. Bei Akanji hieß die Anweisung: „Dive left“. Pickford sprang nach links und hielt.
Seine Strategie war immerzu darauf ausgerichtet, die Elfer in die Länge zu ziehen und die Schweizer zu irritieren. Um keine persönliche Strafe wegen Spielverzögerung zu kassieren, griff Pickford auf mehrere subtile Tricks zurück. Mal überprüfte er die Positionierung des Balls, mal suchte er das Gespräch mit Spieler und Schiedsrichter – oder er schnitt Grimassen. Im Nationaltrikot hat Pickford nun vier von 14 Elfmetern im Shootout pariert.
Die Penalty-Demonstration der Engländer löste Verblüffung aus. Die Nachfragen drehten sich hinterher mehr um die Elfer-Finessen als um das Halbfinale. Irgendwann unterbrach der Pressesprecher die neugierigen Erkundigungen. Auf England könnten bei dieser EM noch weitere Elferschießen warten. Also pssst! Topsecret.