Süddeutsche Zeitung

England besiegt Deutschland:Schock in der 110. Minute

Im tosenden Wembley-Stadion muss die deutsche Auswahl den kurzfristigen Ausfall von Kapitänin Popp verkraften und unterliegt England in der Verlängerung. Das Finale ist geprägt von Zweikämpfen - und mindestens einer strittigen Elfmeterszene.

Von Anna Dreher, London

Der Lärmpegel war schon in den vorherigen Minuten immer mehr gestiegen, und als die Uhr Sekunde um Sekunde ablief, setzten auch die Gesänge ein: "Football's coming home, it's coming home". Und so kam es dann auch: Die Engländerinnen haben es geschafft, sie sind Fußball-Europameisterinnen. Als der Schlusspfiff ertönte, gab es kein Halten mehr, Wembley rastete aus, der DJ wusste genau, welchen Song er nun einspielen musste - und die Menge grölte erneut jene Zeilen, von denen sich die Leute so lange erhofft hatten, dass sie mal wieder Wirklichkeit werden.

Im mit 87 192 Zuschauern gefüllten Londoner Stadion haben die Gastgeberinnen ihr Heimturnier zu einem traumhaften Ende geführt, für sie ist es der erste Titel überhaupt, für den englischen Fußball der erste Triumph, seitdem die Männer 1966 an selber Stelle, ebenfalls gegen Deutschland, die WM gewinnen konnten. Damit ist den Frauen nun auch gelungen, was den Männern vergangenes Jahr hier in ihrem EM-Endspiel gegen Italien verwehrt blieb. Die Nationaltrainerin Sarina Wiegman ist nach ihrem Titelgewinn 2017 mit den Niederlanden - ebenfalls bei einer Heim-EM - die erste Person, die diesen Wettbewerb mit zwei Nationen gewonnen hat. Und Chloe Kelly wurde zur gefeierten Heldin: Sie war es, die in der 110. Minute das entscheidende 2:1 schoss.

Für das deutsche Team hatte der Abend schon mit einer Hiobsbotschaft begonnen, die dieses Spiel klar beeinflussen sollte. Wenige Minuten vor dem Start meldete der DFB, dass Alexandra Popp aufgrund muskulärer Probleme ausfallen würde. Ausgerechnet die 31-Jährige, die bisher mit ihren sechs Toren und auch als Anführerin so entscheidend gewesen war im Turnier - und die von den Engländerinnen besonders gefürchtet wurde. Statt ihre Wucht und Ausstrahlung auf dem Platz einbringen zu können, saß sie mit ernstem Blick auf der Bank.

Dass sie nach einer langen Verletzung und einer Corona-Erkrankung überhaupt so eine Hauptrolle hatte einnehmen können, lag auch daran, dass sich die eigentlich als Stammspielerin vorgesehene Lea Schüller nach dem ersten Gruppenspiel mit Covid-19 infiziert hatte. Nun also würde es wieder auf Schüller ankommen. (Klara Bühl, die sich vor dem Halbfinale ebenfalls mit Corona angesteckt hatte, konnte sich rechtzeitig freitesten, um zumindest als Zuschauerin im Stadion zu sein.)

Mit zunehmender Spielzeit ist mehr und mehr zu spüren, dass Popp ihrem Team fehlt

Englands Trainerin Wiegman setzte auf die gleiche Startelf wie in den vergangenen fünf Partien. Nicht nur hatte sich ihr Team auf diese Weise gegen alle Gegner durchgesetzt, zudem war dies auch mit der besten Offensive gelungen (20 Tore). Deutschland folgte in dieser Kategorie mit 13 Treffern auf Rang zwei. Gegentore gab es jeweils nur eines. Fußballerisch hatten sich beide Teams also bewiesen. Die Frage war nun eher, wer wie mit dieser Kulisse zurechtkommen würde. Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg hatte zu bedenken gegeben, dass es für einige ihrer Spielerinnen eine doppelte Premiere sei: das erste Mal in Wembley und das erste EM-Finale. Wie gut sie das beiseiteschieben könnten, sei nicht genau abzusehen. Den Druck aber sah sie klar bei den Engländerinnen.

Es waren dann dennoch die Gastgeberinnen, die besser in die Partie fanden. Die erste Chance hatten sie bereits in der vierten Minute, durch ihre Rekordtorschützin Ellen White, die sich hinter Marina Hegering geschlichen hatte - doch Whites Kopfball flog direkt auf Torhüterin Merle Frohms zu. Nur zwei Minuten später wurde die 27-Jährige erneut gefordert, diesmal durch einen Distanzschuss von Lucy Bronze.

Mit zunehmender Spielzeit war mehr und mehr zu spüren, dass Popp ihrem Team fehlte. Die Deutschen machten sich durch Fehlpässe den Spielaufbau schwer, nach vorne fehlte es an Ideen. Die Gastgeberinnen zeigten jene Physis und Schnelligkeit, die sie bei dieser EM ins Finale gebracht hatten. In der neunten Minute war es Beth Mead - zusammen mit Popp bis zum Finale mit sechs Treffern die beste Torschützin dieses Turniers -, die von Kathrin Hendrich, Giulia Gwinn und der sich auf den Ball werfenden Frohms erst dicht am Pfosten gestoppt werden konnte. Die größte Chance der Deutschen hatte danach Sara Däbritz mit einem Distanzschuss, der abgeblockt wurde.

Die Szene, über die später viel diskutiert wurde, passierte in der 25. Minute: Hegering kam nach einer Ecke im gegnerischen Strafraum an den Ball - und der flog an den ausgestreckten Arm von Englands Spielführerin Leah Williamson. Die Schiedsrichterin und der Video-Assistent sahen erstaunlicherweise kein strafbares Handspiel. "Das muss man sehen. Das versteht man gar nicht", sagte Nationaltrainerin Martina Voss-Tecklenburg.

Insgesamt mussten die Deutschen viel Energie investieren, um überhaupt in Strafraumnähe zu kommen. Und wenn sie bei den schnellen gegnerischen Angriffen umschalten mussten, kostete das ebenfalls Kraft. Kurz vor der Pause wäre das beinahe schiefgegangen: Nach einem clever über die rechte Seite eingeleiteten Angriff kam der Ball zu White, an diesen Schuss wäre Frohms nicht herangekommen, aber er flog über die Latte.

Zur Pause wechselte Voss-Tecklenburg nach all dem Energieverlust Frische ein: Für Jule Brand kam Tabea Waßmuth. Und ob es nun Waßmuth oder die Pause war: Die Deutschen waren nun besser drin im Spiel, sie fanden ihre Dynamik wieder und ließen den Ball flüssiger laufen, was zum Start der zweiten Hälfte vor allem an Däbritz und Magull zu sehen war.

Lina Magull wollte Wembley zum Schweigen bringen - und schaffte das auch

Wiegman reagierte, indem sie nach knapp einer Stunde einen Wechsel vornahm, der schon in vergangenen Partien wunderbar aufgegangen war: Fran Kirby und White verließen das Feld, Ella Toone und Alessia Russo kamen rein. Und auch diesmal bewährte sich das glückliche Händchen der Niederländerin: Die deutsche Abwehr schlief bei einem langen Ball auf Toone, die ansonsten herausragende Hendrich konnte sie nicht stoppen, Frohms kam heraus, doch Toone war clever: Sie lupfte den Ball, der in einem schönen Bogen ins Netz zur 1:0-Führung flog - und Wembley das erste Mal an diesem Abend zum Jubeln brachte.

In der 66. stürmte Magull aufs Tor zu und hätte beinahe den Ausgleich erzielt - doch der rechte Pfosten war im Weg. Danach verließ Schüller den Platz, für sie kam Nicole Anyomi. Mit ihr als Einwechselspielerin hatten wiederum die Deutschen beste Erfahrungen gemacht; zudem tauschte Voss-Tecklenburg auch noch Däbritz für Sydney Lohmann aus.

Die Ballverluste blieben das Manko. Aber dann waren es doch die Einwechselspielerinnen, die diese Partie vorübergehend drehten. Lohmann dribbelte rechts entlang, und als es zunächst wirkte, als vertändele sie ihre gute Ausgangsposition, spielte sie den Ball auf Waßmuth, die wiederum Magull längst im Blick hatte. Diesmal war kein Pfosten, war keine Earps im Weg - Magull erzielte den Ausgleich, nach 79 Minuten. Wembley zum Schweigen zu bringen, das sei doch auch ein schöner Gedanke, hatte sie vor der Partie noch gesagt - nun ließ sie die englischen Fans tatsächlich verstummen.

Die Engländerinnen ließen mit ihren Angriffen nicht nach, doch mit jeder Minute wirkten sie müder, und so rettete der Ausgleich Deutschland tatsächlich in die Verlängerung. Und dann war es ein Standard, der die Entscheidung brachte: Nach einer Ecke in der 110. Minute bekam die deutsche Abwehr den Ball nicht unter Kontrolle. Kelly drückte ihn über die Linie, bevor sie jubelnd und ihr Trikot wedelnd über das Feld rannte.

Die Engländerinnen hatten den Pokal, die Deutschen weinten bittere Tränen, und Svenja Huth sprach für alle, als sie sagte: "Das tut einfach nur schweineweh."

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SZ/schm/cca
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