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EM-Finale:Éder schießt Portugal ins Glück

Der erste Titel bei einem großen Turnier: Überraschend bezwingt Portugal im EM-Finale die favorisierten Franzosen 1:0 - dabei begann das Spiel für Cristiano Ronaldo mit einem Drama.

Von Claudio Catuogno, Saint-Denis

Die Motten saßen nach dem Abpfiff weiter zu Tausenden auf dem Rasen. Sie saßen auf den Werbebanden, sie bildeten braune Klumpen an der Innenseite der Torpfosten. Sie setzten sich den Spielern auf die Trikots. Allein: Es sprach jetzt niemand mehr von ihnen.

Portugal ist Europameister, das war nun die Sensation der Stunde. Die so siegesgewissen Franzosen haben tatsächlich das Finale ihrer Heim-EM verloren: 0:1 in der Verlängerung, durch ein Tor von Eder in der 109. Minute. Die Motten blieben eine Kuriosität am Rande - allerdings eine, die dieses von Terror-Angst begleitete Hochsicherheits-Turnier mit einer passenden Pointe beendete. Aus Sicherheitsgründen hatten sie im Stade de France in der Nacht vor dem Finale das Flutlicht angelassen. So waren die kleinen Falter erst auf die gepflegte Rasenfläche hinter den hohen Stadionmauern aufmerksam geworden.

Dass sie nun überall herumschwirrten wie lästige Besucher, auch das passte zu diesem Endspiel, das so glamourös hätte werden sollen, und das nun ein zentrales Versprechen nicht einlöste - nicht einlösen konnte. Und das am Ende den Portugiesen umso mehr Genugtuung und den Franzosen umso größeren Frust bescherte.

Finale ohne Ronaldo

Es war ein Finale ohne Cristiano Ronaldo. In der 8. Minute hatte der Ausnahme-Könner der Portugiesen das Knie von Dimitri Payet gegen das seine bekommen, es war ein ziemlich hart geführter Zweikampf des Franzosen. Bis zur 25. Minute versuchte Ronaldo verzweifelt, weiter mitzuspielen. Er humpelte, ließ sich auf den Rasen fallen, verließ den Platz, um sich noch mal behandeln zu lassen, ein letzter verzweifelter Versuch. Er blieb vergebens.

Ronaldo, der ein großes Talent hat, sich zu inszenieren - er war nun die unfreiwillige Hauptfigur eines Dramas. Als er schließlich vom Platz getragen wurde, weinte er hemmungslos. Später jubelte er mit verbundenem Knie umso dankbarer mit.

Eine Mannschaft, die so extrem auf ihren Anführer zugeschnitten ist wie die Portugiesen, kann dessen Ausfall kaum verkraften. Dachte man zunächst. Dann fingen sich die Portugiesen aber erstaunlich schnell wieder. Es blieb ja immer noch ein EM-Finale, ihr erstes seit der Niederlage gegen Otto Rehhagels Griechen in Lissabon 2004. Es ging weiterhin um den Pokal, den der Spanier Xavi vor dem Anpfiff herbeigetragen hatte. Nur das Publikum kam sich vor wie auf einem Rockkonzert, bei dem der Sänger nach dem ersten Titel die Bühne verlässt, weil die Stimme nicht mehr mitmacht, und dann singt der Bassist oder der Keyboarder für ihn weiter.

Was aber kaum noch jemanden interessieren wird, wenn dieser Titel erst mal in die Fußballhistorie einsortiert ist. Es ist nichts geworden mit dem dritten Titel der Franzosen bei einer Europameisterschaft nach 1984 und 2000. Portugal hat den ersten Pokal überhaupt gewonnen bei einem großen Turnier. Nach all den Jahren, die vor allem Ronaldos Gegenwart die ewige Hoffnung genährt hatte, hat es jetzt tatsächlich geklappt. Ohne ihn.

Von 24 Länderspielen zwischen den beiden Nationen hatte Frankreich 18 gewonnen, darunter die letzten zehn. Das war die Ausgangsposition gewesen. Hinzu kam, dass die Elf von Fernando Santos die Gruppenphase ohne einen Sieg überstanden hatte, mit einem 1:1 gegen Island, einem 0:0 gegen Österreich und einem 3:3 gegen Ungarn. Es waren deshalb - ehe Payet sein schmutziges Foul beging - die Portugiesen gewesen, die sich einen schmutzigen Sieg vorgenommen hatten, eine Art Underdog-Guerilla-Taktik. Er wolle, dass die Franzosen "genau das nach dem Finale sagen", hatte Santos verkündet: "Dass wir gewonnen haben und dass es nicht verdient war, das wäre wunderbar."

Santos hatte den wiedergenesenen Pepe sowie William Carvalho nach abgesessener Gelbsperre zurück ins Team rotiert, Bruno Alves und Danilo Pereira mussten weichen. Und auch Renato Sanches, der demnächst beim FC Bayern seinen Dienst antreten wird, war von Anfang an dabei: Mit 18 Jahren und 327 Tagen ist er jetzt der jüngste Spieler, der je in einem EM-Finale auf dem Platz stand. Bisher war auch das Ronaldo, 2004 war er 19 Jahre und 150 Tage alt gewesen.

Und dann trifft Éder

Der französische Nationaltrainer Didier Deschamps wiederum, Kapitän der Weltmeister-Elf 1998, hatte sich für die gleiche Startelf wie beim 2:0 im Halbfinale gegen die Deutschen entschieden - seit dem Achtelfinale gegen Irland hatten die Franzosen jene taktische Grundordnung gefunden, in der sie sich am wohlsten fühlen und zuletzt auch sehr effektiv waren: mit Antoine Griezmann im Zentrum, hinter dem Mittelstürmer Olivier Giroud.

Allerdings stellte sich bald heraus, dass nicht nur die Portugiesen von Ronaldos Fehlen beeinflusst zu sein schienen - sondern fast mehr noch die Franzosen. Ihnen fehlte jetzt gewissermaßen der Staatsfeind Nummer eins, ohne ihn wurde es ein völlig anderes Spiel. Payet wirkte gehemmt, für ihn kam Mitte der zweiten Halbzeit Kingsley Coman. Auch Griezmann war nicht so zwingend wie in den Spielen zuvor - hatte aber immerhin die vielversprechendste Gelegenheit der zweiten Halbzeit: Von Coman bedient, schoss er knapp drüber (66.).

Blaise Matuidi und Moussa Sissoko gewannen dank ihrer Spritzigkeit viele Bälle im Mittelfeld, und wenn Sissoko diese selbst aufs Tor trat (22., 34.), wurde es wenigstens halbwegs gefährlich. Auch kurz vor dem Ende der regulären Spielzeit brachte ein Weitschuss von Sissoko Gefahr - Rui Patrício konnte parieren (84.). Nani war auf der anderen Seite dem 1:0 für Portugal nahe (80.), hier war Hugo Lloris zur Stelle. Und dann schoss der eingewechselte Stürmer André-Pierre Gignac den Ball noch gegen den Pfosten, da lief schon die Nachspielzeit.

In der Verlängerung wäre die Partie beinahe durch eine Art Konter-Pointe entschieden worden: einen unberechtigten Freistoß setzte Eder an die Latte. Doch gleich beim folgenden Angriff hielt sich Eder dann alle Blauen vom Leib - und erzielte den Siegtreffer. Cristiano Ronaldo jubelte mit einem dicken Verband ums Knie.

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SZ vom 11.07.2016/ebc
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