Fußball-EM:Draxler pfeift auf Formalien

Der 22-Jährige wirbelt die Hierarchie im DFB-Team durcheinander vor dem Duell gegen die Ukraine. Seine Stärken gleichen denen von Mesut Özil - aber auch seine Schwächen.

Von Christof Kneer, Évian-les-Bains

Man kann sich jetzt darüber streiten, ob es ein Versehen war oder einfach der Ausdruck eines sehr selbstverständlichen Selbstvertrauens. In den Testspielen habe er auf der linken Seite mit Jonas Hector "offensiv doch schon ganz gut zusammengespielt", sagte Julian Draxler also, und er mache sich "keine Sorgen, dass wir zum EM-Auftakt auch gut verteidigen werden". Versehen oder Selbstvertrauen? Jedenfalls hatte Draxler mit diesem schönen Satz im Grunde verraten, dass er von Anfang an spielen wird.

Eigentlich macht man das ja nicht. Eigentlich gehört es zum Standardprogramm bei solchen Turnieren, dass Verantwortliche genüsslich in Rätseln reden, so wie der Assistenztrainer Thomas Schneider, der am Freitag andeutete, dass sich der Trainerstab bereits für eine Startelf entschieden habe, aber selbstverständlich nicht darüber reden wolle. Draxler ist erst 22, er ist noch nicht so lange dabei, vielleicht kennt er die Sitten und Gebräuche noch nicht so genau, vielleicht sind sie ihm aber auch wunderbar egal. Warum soll er das nicht sagen, wenn er das Gefühl hat, dass er spielen wird? Und wenn es ja ohnehin schon alle ahnen?

Erstmals auf der ganz großen Bühne

Die Frage, wer den verletzten Marco Reus links vorne ersetzen soll, scheint nach den jüngsten Erkenntnissen beantwortet zu sein. Es wird jedenfalls nicht Lukas Podolski sein, der nach den ungeschriebenen Gesetzen der Hierarchie an der Reihe wäre; und auch den in der Hierarchie Nächstplatzierten, den Weltmeister André Schürrle, scheint Bundestrainer Joachim Löw wieder für jene Rolle vorzusehen, die Schürrle schon bei der WM in Brasilien hatte: die Rolle der sogenannten Spezialkraft, die eingewechselt wird und im Bedarfsfall sehr gerne auch die Flanke zum Siegtor im Finale schlagen darf. Mit der Jokerrolle habe er "überhaupt kein Problem", hat Schürrle am Wochenende sicherheitshalber schon mal gesagt.

Wenn Löw nicht wider Erwarten noch die Taktik ändert und den Linksaußenposten streicht, wird Julian Draxler nun also erstmals die ganz große Bühne betreten; ob das früh oder spät ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Stammspieler beim Weltmeister zu sein, das wäre nicht so schlecht für einen 22-Jährigen, andererseits: Hätte er das nicht schon viel früher erreichen können? Und unter uns: Hat das sein müssen, ausgerechnet zum VfL Wolfsburg zu wechseln?

Draxler wird immer wichtiger

Wahrscheinlich ist es so, dass Julian Draxler einfach nur dabei ist, eine ganze normale Karriere zu machen - gemessen an seiner herausragenden Begabung. Bei allen Aufs und Abs, die der Künstler hinter sich hat, ist gerade beim DFB ein verlässliches Muster erkennbar: Der junge Mann wird mit jedem Turnier ein bisschen wichtiger. Vor der EM 2012 stand er noch im erweiterten Kader und wurde dann, als es ernst wurde, gestrichen.

Bei der WM 2014 war er schon recht selbstverständlich dabei, aber ebenso selbstverständlich noch kein Faktor im Kader; beim hymnischen 7:1 gegen Brasilien wurde er eine Viertelstunde vor Schluss beim Stand von 6:0 eingewechselt, es war und blieb sein einziger Turniereinsatz. Zwei Jahre später, bei der EM in Frankreich, könnte er es nun in die Startformation geschafft haben - auf einer Position, die er nicht liebt, aber sehr gut beherrscht.

Seine Schwäche ist dieselbe wie die von Özil

Julian Draxler ist eigentlich ein Zehner, so sieht er sich selbst, aber er akzeptiert, dass Joachim Löw auf dieser Position Mesut Özil vertraut. Draxlers Fuß ist fein, aber nicht ganz so fein wie der von Özil, dafür ist er kraftvoller und dynamischer - er besitzt eine Menge Qualitäten, die ihn auch dafür prädestinieren, von links außen in die Mitte zu ziehen.

Eines allerdings kann er ebenso wenig wie Özil: besonders gut verteidigen. Und das ist der Punkt, an dem es nun wohl spannend werden wird im deutschen Team: Der Weltmeister präsentiert sich in Frankreich mit einer komplett runderneuerten linken Seite, mit Hector und Draxler, und schon gegen den Auftaktgegner wird sich zeigen, wie wehrhaft die neue Flanke ist: Der mit Abstand beste Ukrainer, der international begehrte Andrij Jarmolenko, spielt ausgerechnet auf Rechtsaußen, er wird Deutschlands neue Linke gleich mal auf ihre Stabilität prüfen.

Erik Durm, Matthias Ginter, Christoph Kramer und Kevin Großkreutz sind wie Draxler in Brasilien Weltmeister geworden, aber sie haben sich als vorübergehende Phänomene herausgestellt, im aktuellen EM-Kader ist keiner von ihnen mehr dabei. Julian Draxler, ob links, zentral oder sonst wo, ist von anderer Qualität. Sie wollen ihm nicht zu viel Druck machen beim DFB, aber im Trainerstab schließen sie nicht aus, dass das in Frankreich eine Julian-Draxler-EM werden könnte.

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