Fußball-EM:DFB-Jünglinge müssen es alleine richten

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Können die das? Das DFB-Team bereitet sich auf sein erstes Gruppenspiel bei der Fußball-EM vor.

(Foto: AFP)

Erstmals nach vielen Jahren muss die deutsche Nationalelf ohne die Souveränität von Philipp Lahm und die Tore von Miroslav Klose auskommen. Kann die Mannschaft das?

Von Christof Kneer, Evian-les-Bains

Miroslav Klose weiß noch genau, wie der Nebel in Miyazaki ausgesehen hat. Er weiß noch, wie er damals aus dem Flugzeug gestiegen ist und wie der DFB-Shuttle sie dann zu einem plattenbauartigen Etwas gefahren hat, das sich als ihr Teamhotel herausstellte. Klose erinnert sich auch noch an den Skandal des ersten Tages, es war ein Skandal, der die Spieler tief verwundete: Im Hotel der Journalisten war das Internet besser als im DFB-Hotel. Klose kann natürlich auch noch die Tore auswendig, die er bei diesem Turnier erzielte, alle mit dem Kopf, und nur aufgrund seiner militanten Bescheidenheit spricht er ungern über die Schlagzeilen von damals, die ihn als die Entdeckung der WM 2002 in Japan und Südkorea feierten.

Es war die WM, bei der Leroy Sané sechs Jahre alt war. Wahrscheinlich hat er sogar das eine oder andere Spiel damals sehen dürfen, die Spiele kamen in Deutschland zur Mittagszeit.

Miroslav Klose stammt aus einer Zeit, die für die "Generation Sané" vom Wunder von Bern nur schwer zu unterscheiden ist, mit dem kleinen Unterschied vielleicht, dass sie diesen Fritz Walter nicht mehr im Fernsehen gesehen haben. Miroslav Klose kam dagegen ständig im Fernsehen, bei jedem Turnier auf jedem Kontinent, er stürmte an der Seite von Jancker, Brdaric, Neuville, Gomez und Götze. Für viele Deutsche ist das unvorstellbar: ein Turnier, bei dem Klose nicht mitspielt. Es ist etwa so unvorstellbar wie ein Turnier, an dem Philipp Lahm nicht die Linie rauf- und runter saust. Oder ein Turnier, bei dem Per Mertesacker nicht in die Eistonne steigt.

Weltmeister wurden sie, weil alle "ihr Ego hintenangestellt haben".

Die Menschen werden sich umstellen müssen in den kommenden vier Wochen. Sie werden immer noch grillen, sie werden weiterhin Freunde und Fan-Zonen besuchen, aber sie werden das ohne Klose, Lahm und Mertesacker tun, die seit 2002, 2004 bzw. 2006 immer dabei waren.

Miroslav Klose ist am Freitag 38 Jahre alt geworden, er findet selbst, dass das doch ein akzeptables Alter sei, "um ein Turnier auf der Couch zu erleben". Er habe seinen Rücktritt nach dem WM-Finale "nie bereut", sagt er, "der Zeitpunkt war ja ganz bewusst gewählt, ich wollte mit dem schönsten Spiel aufhören. Deshalb habe ich auch keine Sekunde über einen Rücktritt vom Rücktritt nachgedacht."

Die Frage ist jetzt also nicht nur, wer im deutschen Team jene Tore schießen wird, die Klose immer geschossen hat oder ob sich jemand findet, der den Flug des Balles so verlässlich vorhersagen kann wie Philipp Lahm. Es geht in Frankreich nicht nur darum, drei zurückgetretene Sportler zu ersetzen, die ganz gut (Mertesacker), ganz schwer (Klose) oder gar nicht (Lahm) zu ersetzen sind. Vor dem Auftaktspiel gegen die Ukraine geht es vor allem darum, wie gut die deutsche Elf ihr Innenleben organisiert hat. Man hört die Spieler zurzeit oft vom "Teamgeist" sprechen, von "Spirit" oder "Führung", das sind abstrakte Begriffe, die man nicht in Gramm, Zentimetern oder Ballbesitzprozenten messen kann; man kann die Begriffe nur fühlen, und wenn sich alles gut anfühlt, kann man sie hinterher vielleicht in der Tabelle sehen.

Es ist aus deutscher Sicht das Thema dieses Turniers: Können es Sami Khedira, Manuel Neuer, Thomas Müller, Toni Kroos und Jérôme Boateng jetzt auch alleine, unterstützt nur vom allseits anerkannten, aber eben auch allseits lädierten Bastian Schweinsteiger? Sind sie in der Lage, ohne Lahm, Klose und Mertesacker ein Binnenklima zu schaffen, in dem Wettkampfhärte und Kollegialität in einem gesunden Verhältnis stehen? Wie reagieren sie, wenn es wieder ein Algerien-Spiel gibt, wenn man nach einem Spiel wieder konstruktiv streiten muss, ob jemand künftig eine andere Position spielt oder gleich ganz aus der Mannschaft fliegt?

Philipp Lahm hat sich nach dem WM-Achtelfinale gegen Algerien aus dem Mittelfeld wieder nach rechts hinten versetzen lassen, draußen hat man keine Klagen gehört, aber drinnen hat Joachim Löw sehr wohl mitbekommen, wie sich Lahm - wenn er schon zurück muss - seine neue, alte Rolle vorstellt. Und wie Per Mertesacker reagierte, als er erfuhr, dass sein Stammplatz künftig auf der Bank sein würde, das kann DFB-Sportdirektor Hansi Flick, damals noch Löws Assistent, bis heute kaum glauben. "Per hat gesagt: Ich weiß, was ihr wollt, ihr braucht mir nix zu sagen, alles okay. Aber wenn ihr mich wieder braucht, werde ich da sein."

Was die neue Generation schaffen muss

Deshalb, das sagen Flick und Klose beinahe wortgleich, sei Deutschland im Sommer 2014 auch Weltmeister geworden: weil alle "ihr Ego hintenangestellt" hätten. Weil zum Beispiel auch Sami Khedira vor dem Finale ein Ziehen in der Wade nicht verschwieg. Er hätte ja auch auflaufen können, mal sehen, wie lange es geht, vielleicht läuft sich die Wade ja warm, im größten Endspiel der Welt steht man ja nicht so oft. Aber Khedira hat sich offenbart, und am Ende spielte Christoph Kramer.

Philipp Lahm war ein leiser, aber innenpolitisch hoch aktiver Kapitän, er hat sich oft und gerne mit dem Trainer beraten, aber es geht nun beim ersten lahmfreien Turnier nicht nur darum, den Konferenztisch mit innenpolitisch interessierten Nachfolgern wie Neuer oder Khedira schlüssig besetzt zu halten. Es geht auch um Begriffe wie Erziehung, Erfahrung oder Verantwortung, die sich ebenfalls nicht in Gramm, Zentimetern oder Ballbesitzprozenten messen lassen.

"Als Junger brauchst du Routiniers, denen man den Ball zuschieben kann."

Klose erzählt, er habe sich beim Einlaufen auf den Trainingsplatz "manchmal extra ein paar Meter zurückfallen lassen, um die jungen Spieler zu beobachten. Ich wollte wissen: Welchem Jungen fällt auf, dass da ein Ball-Sack liegt, den man aufs Feld tragen kann, und welcher Junge sieht den Ball-Sack gar nicht? Wenn einer am Sack vorbeigelaufen ist, hab' ich ihn manchmal angemacht: Willst du vielleicht lieber Lauftraining machen als kicken?" Als älterer Spieler, meint Klose, habe man "schon die Aufgabe, die Jungen ein bisschen mit zu erziehen, und in Brasilien haben wir es geschafft, dass in keiner einzigen Trainingseinheit ein Schlendrian drin war".

Vielleicht ist der rührend mannschaftsdienliche Klose aber auch das beste Beispiel dafür, dass Führung nicht nur aus Worten, sondern auch aus Bildern besteht. Julian Draxler hat vergangene Woche im Vorbereitungscamp in Ascona erzählt, wie sehr ihn das, was Klose bei der WM in Brasilien vorlebte, beeindruckt hat. "Wenn man sieht, wie der Miro, auch wenn er mal auf der Bank gesessen hatte, am Tag danach mit seinen 36 Jahren im Training am meisten Gas gibt, dann sagt man sich als 20-Jähriger: Okay, wenn der so Gas gibt, gebe ich mindestens genauso Gas."

Das ist es, was die neue Führungsgeneration nun schaffen muss, damit nicht nur der Auftakt gegen die Ukraine, sondern das ganze Turnier gelingt: Sie müssen den anderen Mut, Geborgenheit und ein gutes Gefühl geben.

"Ich habe bei der WM 2002 selber erlebt, wie wichtig Spieler sind, an denen man sich orientieren kann", sagt Klose, "als Junger brauchst du Routiniers, denen man beruhigt den Ball rüberschieben kann, wenn man mal nervös ist. Als Junger hast du nicht immer das richtige Gespür, wann man ein Spiel langsam oder schnell machen muss, und in dieser Hinsicht wird Philipp Lahm der Mannschaft immer noch fehlen. Es ist schon brutal, wie sehr Philipp in jeder Situation das Richtige macht."

Wenn es gut geht in Frankreich, wird man hinterher behaupten können, dass beim WM-Halbfinale in Belo Horizonte eine Art Staffelstab-Übergabe stattgefunden hat. Erst hat der alte Klose Verantwortung vorgelebt, er hat bei Kroos' Eckstoß vor dem 1:0 die Initiative ergriffen und jenen Laufweg eingeschlagen, den sie im Training verabredet hatten. Er ist plötzlich zum ersten Pfosten gesprintet und hat die übertölpelten Brasilianer mitgezogen, und hinten konnte Thomas Müller den Ball in aller Ruhe reindrücken. Kloses Sprint hat dann die Entschlusskräfte der anderen geweckt, wie Sami Khedira vorige Woche in Ascona erzählte. "Unser Plan war nicht, ganz vorne zu pressen, aber irgendwann haben wir gemerkt, dass die Brasilianer schwimmen. Dann sind wir vorn draufgegangen, und irgendwann hab' ich Thomas Müller angeschaut und der hat geschrien: Bleib vorne, bleib vorne!"

Khedira hat kurz darauf ein Tor vorbereitet und dann noch eines selbst erzielt. Am Ende stand es 7:1.

Die Jünglinge der WM 2010 sind erwachsen geworden, die Kinder sind jetzt groß und selbst an der Macht, und sie haben die besten Wünsche von Miro Klose. Er sei "überzeugt, dass die Gruppe auch diesmal funktionieren wird", sagt er, "und deshalb bin ich sicher, dass die Mannschaft wieder weit kommt". Klose sagt, er würde "gerne von der Couch zuschauen, wie Deutschland Europameister wird", nur eines werde man nicht erleben: dass er vor Freude twittere oder facebooke oder so'n Zeug.

Das, sagt er, sei der neuen Generation vorbehalten. Er belasse es bei WhatsApp.

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