Süddeutsche Zeitung

DFB-Team bei der Fußball-EM:Mit Getöse zurück auf großer Bühne

Vor der EM wusste niemand genau, wo die DFB-Auswahl steht. Nun gilt die Elf nach den beiden überzeugenden Siegen gegen Dänemark und Spanien als Titelkandidat. Typisch, findet Kapitänin Alexandra Popp.

Von Anna Dreher, London

Eine halbe Stunde vor Mitternacht übernahm Martina Voss-Tecklenburg noch einmal das Kommando. Ihr dauerte das alles zu lange, also war sie nach vorne gegangen, hatte sich ans Lenkrad des großen Teambusses gesetzt - und hupte mehrmals. Nun ist das Brentford Community Stadium von der Lage her nicht zu vergleichen mit beispielsweise der Münchner Arena, wo die Bundestrainerin mit ihrem Signal ringsherum auf der Fröttmaninger Heide Rebhühner oder Laubfrösche aufgeschreckt hätte. Das Stadion liegt in einem Wohnviertel im Westen Londons, wenige Meter von der Haupttribüne entfernt stehen moderne Hochhäuser. Aber auf die Nachtruhe der Bewohner, die teils ohnehin alles von ihren Balkonen beobachteten, nahm Voss-Tecklenburg keine Rücksicht. Sie wollte ins Hotel.

Die Feierlichkeiten nach dem zweiten Sieg im zweiten Gruppenspiel dieser Fußball-Europameisterschaft hatten sich in die Länge gezogen. Die deutschen Nationalspielerinnen tanzten zu lauter Musik und ein bisschen wirkte es, als würden sie die Kabine gar nicht verlassen wollen. Diese Party muss viel zu gut gewesen sein, um sie zu beenden und schlafen zu gehen. Mit dem 4:0 zum Auftakt gegen Dänemark hatte sich das Team auf der internationalen Bühne zurückgemeldet. Mit dem 2:0 gegen Spanien hat es am Dienstagabend bestätigt, dass es tatsächlich zum Kreis der Titelkandidaten gezählt werden kann.

"Ich finde das total faszinierend. Vorher zählen wir so gar nicht zu den Top-Favoriten und plötzlich sind wir wieder Europameister, das ist wieder typisch", sagte Kapitänin Alexandra Popp vor dem Stadion, als die Bundestrainerin aufgehört hatte zu hupen. Nun ist der Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung aber ja durchaus zu erklären: Aus im Viertelfinale bei der EM 2017 und der WM 2019, gefolgt von drei Jahren Vorbereitung ohne wirkliche Herausforderungen. Und nun zwei Auftritte, die als Beweis herangezogen werden können, dass Selbstvertrauen und ein durchdringender Teamgeist zurück sind, wie auch, dass sich die Deutschen spielerisch gefunden haben.

Kapitänin Popp spricht schon vom "EM-Zauber"

Der achtmalige Europameister hat innerhalb weniger Tage mit viel Getöse auf großer Bühne einen Rollentausch vollzogen. Jetzt darf nur kein Lampenfieber aufkommen. "Es ist ganz wichtig, dass wir wissen, wo wir stehen und dass wir gute Leistungen gebracht haben", sagte Popp. "Wichtig ist, dass diese Energie, ich nenne es mal EM-Zauber, vorhanden ist bei uns. Dann glaube ich, dass es weiter geht."

Mit sechs Punkten ist das Team von Voss-Tecklenburg vor dem abschließenden Gruppenspiel gegen Finnland am Samstag (21 Uhr, ZDF) in Milton Keynes sicher Erster. Am 21. Juli trifft es abermals in Brentford auf den Zweiten der Gruppe A, Norwegen oder Österreich, die am Freitag gegeneinander spielen. Damit geht Deutschland vorerst dem Gastgeber England aus dem Weg, der sich zuletzt beim 8:0 gegen Norwegen geradezu in einen Rausch gespielt hat und dem man besser so spät wie möglich begegnet.

Während gegen Dänemark die Offensive mit hohem Pressing gefordert war, rückte nun die Defensive viel stärker in den Fokus. Vor 16 037 Zuschauern begannen die Deutschen zunächst mit der gleichen Herangehensweise wie im ersten Spiel und setzten die Spanierinnen unter Druck. Auch dank eines verheerenden Fehlers von Torhüterin Sandra Paños, die den Ball im Strafraum geradewegs auf Klara Bühl spielte, gingen sie bereits nach drei Minuten in Führung. Es dauerte nicht lange, bis die Spanierinnen sich schüttelten, mit ihrer feinen Technik und viel individueller Klasse die Ordnung der DFB-Frauen durcheinanderbrachten und ausgleichen hätten können.

"Wir haben brutal verteidigt, gerade in der zweiten Halbzeit sind wir so gut wie gar nicht nach vorne gekommen", sagt Popp

Voss-Tecklenburg, 54, reagierte umgehend - und ihr Plan funktionierte. "Wir haben Widerstandsfähigkeit gezeigt und uns belohnt. Das ist einfach toll, dass es taktisch so aufgegangen ist", sagte sie. "Wir haben als Team gezeigt, wozu wir in der Lage sind, nämlich die richtigen Mittel gegen den jeweiligen Gegner zu wählen." Am Seitenrand hielt sie mit Co-Trainer Patrik Grolimund ein zusammengerolltes blaues Tuch nach oben. Darauf stand weder "Zurück!" noch "Struktur!" oder "Tief stehen!", aber die Botschaft dürfte so ähnlich gelautet haben. Ihre Spielerinnen rückten nach hinten, versuchten, dicht zu machen und lauerten auf Konter.

"Wir haben brutal verteidigt, gerade in der zweiten Halbzeit sind wir so gut wie gar nicht nach vorne gekommen", fand Popp, die nach dem Spiel ein Trikot der coronainfizierten Stürmerin Lea Schüller anzog. "Das war schon extrem gut." Ihr 2:0 per Kopfball nach einer Ecke (37. Minute) war der erst zweite Ball aufs spanische Tor. Auch danach gab es offensiv wenig zu sehen, umso entscheidender war die enorme Effizienz. Die Spanierinnen - fußballerisch eines der stärksten Teams weltweit und bis Dienstag seit 24 Partien ungeschlagen - kombinierten teilweise sensationell und waren bei Ballbesitz, Passquote, Angriffen und Schüssen aufs Tor deutlich überlegen. Das entscheidende Manko war: die Abschlussschwäche. Der Abend wäre wohl anders gelaufen, hätten Weltfußballerin Alexia Putellas und Torjägerin Jenni Hermoso nicht verletzt gefehlt.

Dass angesichts ungenutzter, teils guter Chancen ein spürbar zunehmender Frust aufkam, lag aber auch am deutschen Defensivverbund. Für Voss-Tecklenburg war es ein Spiel, das ihr Team in seiner Entwicklung "extrem weitergebracht hat mit Blick auch auf die kommenden Turniere". Die spanische Zeitung AS befand: "Spanien füttert ein Biest."

Torhüterin Merle Frohms rettete verlässlich und einmal überragend. "Das kann definitiv der Beginn von etwas ganz Großem sein", sagte sie nach ihrem zweiten EM-Spiel als Nummer eins. Auffällig war vor allem Marina Hegering mit ihrem guten Stellungsspiel. "Es war von eins bis elf plus alle, die reingekommen sind, eine Wahnsinns-Defensivleistung", sagte die 32-Jährige und ging näher auf ihre Kolleginnen Kathrin Hendrich, Giulia Gwinn, Felicitas Rauch und die eingewechselte Sophia Kleinherne ein: "Das, was nach hinten durchgekommen ist, haben Kathi und ich versucht wegzuverteidigen, und auch Giuli, Feli und Sophe auf Außen - also das war eine brutal gute Defensivleistung, da kann man eigentlich niemanden herausheben."

Die Bundestrainerin nahm das alles derart mit, dass sie sich nach dem ersten Siegesjubel hinsetzen musste, einen Eisbeutel in den Nacken gelegt bekam, und kurz verschwand, um ihren Kreislauf wieder in Schwung zu bringen - was schnell ging. Später, nachdem ihr Hupen nicht die gewünschte Wirkung gezeigt hatte, blieb ihr genug Energie, um einen Countdown in die Nacht zu rufen: "In zehn Sekunden ist Abfahrt. Wer nicht da ist, läuft! Zehn, neun, acht, ..." Aber selbst das gelang an diesem Abend: Bei eins angekommen, beendete Alexandra Popp ihren letzten Satz. Alle anderen saßen schon im Bus.

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