Süddeutsche Zeitung

Deutschland bei der Fußball-EM:Nadelöhr auf dem Weg ins Finale

Es gibt im Fußball keine größere Sünde, als bereits an den übernächsten Gegner zu denken. Doch ein Blick auf das EM-Tableau zeigt: Ein Sieg in Wembley könnte die deutsche Elf zu einem der Topfavoriten auf den Titel machen.

Kommentar von Philipp Selldorf

In Griechenland gingen die Menschen einst zum Orakel von Delphi, wenn sie über ihre Zukunft Bescheid wissen wollten. Allerdings waren die Weissagungen oft rätselhaft und missverständlich, mancher Ratsuchende war trotz großzügiger Spenden an das Institut hinterher nicht schlauer als vorher. Der steinreiche lydische König Gyges etwa, der sich bestätigen lassen wollte, der glücklichste Mann auf Erden zu sein, erhielt die Auskunft, der aus einem unbedeutenden Kuhdorf stammende Habenichts Argelaos sei noch viel glücklicher. Damit konnte Gyges, logisch, nicht viel anfangen.

Heutzutage ist es zum Glück einfacher. Man geht zur Elefantendame "Yashoda" in den Tierpark Hagenbeck in Hamburg, fragt sie, wer das Achtelfinale zwischen England und Deutschland gewinnt - und bekommt sofort eine klare Antwort: Der Sieger werde die DFB-Elf sein, gab Yashoda bekannt, indem sie mit ihrem Rüssel eine deutsche Fahne aus dem Weidenkorb hervorholte. Verdacht auf Manipulation erübrigt sich - die Elefantin hatte während der Vorrunde sämtliche Tendenzen korrekt geweissagt, beim Remis im dritten Spiel ergriff sie die Flaggen beider Teams. Ihre seherischen Fähigkeiten sind somit wissenschaftlich erwiesen.

Bei einem Sieg ginge es weiter gegen: Schweden oder Ukraine, dann Tschechien oder Dänemark

Über den weiteren Weg der deutschen Mannschaft hat Yashoda bisher keine Informationen preisgegeben, aber vermutlich werden das viele Fußballfreunde hierzulande auch nicht mehr für nötig halten. Ein Blick auf das Turnier-Tableau genügt ihnen, um selbst einen seherischen Blick aufzusetzen. Demnach scheint Wembley eine Art Nadelöhr auf dem Weg ins Finale zu sein. Lässt Joachim Löws Team im Achtelfinale die Engländer hinter sich, täte sich eine verheißungsvolle Perspektive auf.

Dann bekäme man es im Viertelfinale in Rom mit dem Sieger der Partie Schweden gegen Ukraine zu tun und im Halbfinale - wieder in Wembley - entweder mit Tschechien oder mit Dänemark. In der anderen Hälfte des Teilnehmerfeldes stehen sich währenddessen zum Beispiel Belgien mit den großmächtigen Stars Lukaku und De Bruyne und das offenbar unbesiegbare Italien gegenüber.

Es gibt im Fußball keine größere Sünde, als vor dem nächsten Gegner bereits an den übernächsten zu denken, geschweige denn an den überübernächsten. Mancher große Klub, der sich vor dem Halbfinale gegen einen Zweitligisten schon als Pokalfinalist wähnte, hat es hinterher bitter bereut und ging an seiner Enttäuschung zugrunde. Doch der Bundestrainer Löw kann sich Warnungen vor dem Hochmut für später aufheben (wenn es ein später geben sollte). Die Aussicht auf das mutmaßliche Jackpot-Spiel im magischen Wembley-Tempel dürfte auch ohne mahnende Hinweise bei jedem Einzelnen genügend Spannung erzeugen.

Die jüngeren deutschen Spieler könnten darüber hinaus bei ihren Weltmeister-Kollegen eine Geschichtslektion buchen. Das Lebensgefahr-Erlebnis, das die Spieler jetzt beim 2:2 gegen Ungarn hatten, das hatten ihre Ahnen 2014 im Achtelfinale. Die Begegnung mit Algerien in Porto Alegre wäre damals beinahe die Falle auf dem Weg zum Finale in Rio de Janeiro gewesen. Viele Beteiligte haben später gesagt, das schwierigste Hindernis vor dem Titelgewinn sei nicht der Endspiel-Gegner Argentinien gewesen, sondern ein enorm zähes und gefährliches Algerien.

Europameisterschaften bieten den Außenseitern bessere Chancen als Weltmeisterschaften

Manuel Neuer rettete sein Team in der Doppelrolle des Libero spielenden Torwarts, wie ein Superfeuerwehrmann fegte er über den Platz und löschte die Brände. Für Neuer war diese Partie ein Vergnügen, für die Mannschaft eine läuternde Erfahrung. Danach waren sie für alle weiteren Aufgaben geschärft. Aber ob das diesmal auch so wäre, wenn es nach einem Erweckungserlebnis in Wembley nur noch gegen Schweden und Dänemark ginge? Nur Yashoda könnte das schon wissen.

Europameisterschaften bieten den Außenseitern bessere Chancen als Weltmeisterschaften. In den Sieger-Ehrenlisten sind unter anderem die Länder Tschechoslowakei, Griechenland und Portugal verzeichnet, und die ersten Begegnungen des Achtelfinales haben die Tücken dieses Wettbewerbs wieder vorgeführt: Die makellos durchmarschierten Italiener und Belgier mussten leiden, die holländischen Fans, die im Rahmen einer Völkerwanderung zum Feiern nach Budapest gekommen waren, kehrten nach der Niederlage gegen Tschechien im Trauerzug heim. Am Montag verabschiedete sich der Weltmeister aus Frankreich.

Gewissheiten existieren bei diesem Turnier noch weniger als bei früheren Anlässen, die außergewöhnlichen Umstände der kräfteraubenden Corona-Saison bieten Unwägbarkeiten und Zufällen noch mehr Raum - und den Außenseitern wohl eine zusätzliche Chance. Bisher ist nicht klar, ob Löws Deutschland überhaupt zu den Favoriten gehört, aber sollten sie als Sieger von der Insel heimkehren, wären sie wohl unvermeidlich ein Top-Favorit.

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