Fußball-EM 1972:Der Ramba-Zamba-Rebell

Er verkörperte eine deutsche Ära des Aufbruchs und begeisterte mit seinen Pässen selbst Feuilletonisten: Günter Netzer, Spielmacher aus der Tiefe des Raumes.

Kurt Röttgen

Gefeierter Spielmacher bei Borussia Mönchengladbach und Real Madrid, Topmanager des Hamburger SV, einflussreicher Vermarkter von TV-Senderechten, mit Grimme-Preis und Medienpreis für Sprachkultur dekorierter Fußballkritiker im Fernsehen: Günter Netzers Berufsweg ist die reinste Erfolgsstory. "Meine Generation hatte Glück", sagt der 63-Jährige, der mit Frau Elvira und Tochter Alana, 20, in Zürich lebt. "Wir waren jung zu einer Zeit, als alles möglich schien. Das gab uns Selbstvertrauen."

Fußball-EM 1972: Mit wehendem Blondhaar durch das Mittelfeld: So spielte sich Günter Netzer (rechts) in die Herzen der Deutschen.

Mit wehendem Blondhaar durch das Mittelfeld: So spielte sich Günter Netzer (rechts) in die Herzen der Deutschen.

(Foto: Foto: imago)

Optimismus und Leichtigkeit bestimmten in den sechziger und frühen siebziger Jahren das Lebensgefühl. Die 1972 erschienene Studie des Club of Rome über Grenzen des Wachstums in den Industriestaaten löste noch keine Zukunftsängste aus. In jenem Frühjahr interessierten sich die Deutschen vor allem für Politik und Fußball.

Gebannt verfolgten sie am 27. April das erste Misstrauensvotum im Bonner Bundestag, mit dem die Union nach erbittertem Streit über die Ostverträge Willy Brandt stürzen wollte. In den Innenstädten bildeten sich Menschentrauben vor Fernsehgeschäften, in manchen Betrieben ruhte während der TV-Übertragung die Arbeit. Als Brandts Sieg feststand, reagierten viele Anhänger des beliebten Kanzlers wie nach einem gewonnenen Fußballspiel: Sie fielen sich um den Hals oder fuhren hupend durch die Straßen.

"Bester Spieler unseres Erdteils"

Zwei Tage darauf überwältigte die Nation vollends das Glücksgefühl. Angeführt vom groß auftrumpfenden Netzer siegte Deutschland im EM-Viertelfinale zum ersten Mal nach 63 Jahren in England. "Traumfußball" sah L'Équipe beim 3:1 in Londons Wembley-Stadion, dem bis heute wohl stärksten Auftritt einer deutschen Nationalelf. Nach dem Mitte Juni im Finale gegen die UdSSR errungenen Europameistertitel war Netzer für das renommierte französische Sportblatt der "beste Spieler unseres Erdteils".

Für Feuilletonisten in der Heimat war er noch mehr: Ein Visionär und eine Symbolfigur der 68er. Netzers Pässe "weit in den freien Raum waren das fußballerische Pendant zur APO und deren Ausläufern bis hin zu Brandts ,Mehr Demokratie wagen'", schwärmte Biograf Helmut Böttiger. "Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte ,thrill'," schrieb Karl Heinz Bohrer in der FAZ. Thrill, so der Literaturwissenschaftler, sei die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum. Mit Netzer identifizierten sich Künstler oder Studenten, die an den Universitäten gegen verkrustete Machtstrukturen rebellierten. Zum einen, weil er und sein Mönchengladbacher Trainer Hennes Weisweiler eine neue Fußballkultur kreierten.

Das furiose Offensivspiel der "Fohlen-Elf", die nach dem Bundesligaaufstieg 1965 etablierte Klubs wie Schalke zweistellig wegfegte, entsprach der allgemeinen Aufbruchstimmung. Keine deutsche Vereinself stürmte mitreißender als Mönchengladbach beim 7:1-Europacupsieg 1971 über Inter Mailand, den die Uefa zur landesweiten Empörung annullierte. Der Mailänder Boninsegna war von einer aufs Spielfeld geschleuderten leeren Cola-Dose getroffen worden.

Ein Rebell war er nie

Netzer gehörten auch die Sympathien gerade junger Menschen, weil er als erster Bundesligaprofi beim Trainer Mitsprache einforderte. Das war allerdings weniger die Auflehnung gegen die Väter im Gefolge von Rudi Dutschke und den Beatles. Bei den Krächen zwischen Netzer und Weisweiler ging es hauptsächlich um die Taktik auf dem Spielfeld. Der Regisseur plädierte dafür, das Tempo zu dosieren, denn: "Wenn wir in jedem Spiel 90 Minuten angreifen, gehen wir vor die Hunde." Der Trainer hingegen wollte der Welt immer zeigen, welch einzigartigen Fußball er spielen lässt. Netzer verlangte von Weisweiler Erklärungen - und widersetzte sich, wenn sie ihm nicht sinnvoll erschienen.

Die Zusammenarbeit mit Helmut Schön klappte am besten, als der Bundestrainer ihm alle taktischen Freiheiten ließ. "Macht was ihr wollt, ich habe nichts dagegen", sagte er vor der Europameisterschaft zu Netzer und Franz Beckenbauer, den Chefs der Mannschaft. Anfang 1970 war es darüber noch zum Bruch gekommen. Schön kritisierte, Netzer könne sich dem Spiel der Nationalelf nicht unterordnen, und der reagierte mit Rücktritt. Nach mehreren Friedensgipfeln war er dann in einer von beiden Seiten unterzeichneten Erklärung bereit, "trotz bestehender Bedenken" wieder für Deutschland zu spielen.

Ein Rebell, wie in Büchern und Zeitungsbeiträgen vielfach suggeriert, war er jedoch nie. Netzer legte sich nicht mit dem Trainer an, um dessen Autorität zu untergraben. Seinen Standpunkt vertrat er selbstbewusst, weil er den Erfolg der Mannschaft wollte. Die "intellektuelle Unabhängigkeit", die etwa Fußballfan Peer Steinbrück am TV-Kritiker Netzer schätzt, war früh erkennbar. "Ich habe mich immer schon getraut, Dinge anzusprechen, um die sich andere herum mogeln", sagt er. Wenn Netzer mit Gerhard Delling in der ARD die Spiele der Nationalelf analysiert, wird im Gegensatz zum bisweilen nervenden Ballyhoo auf anderen Kanälen Klartext geredet.

Auf der nächsten Seite: Der Disput mit Weisweiler, der große Unterschied zwischen Bayern und Gladbach und warum Netzer "ungern gelaufen" ist.

Der Ramba-Zamba-Rebell

Auch im Disput mit Weisweiler fielen deutliche Worte. "Sie haben von Fußball einfach keine Ahnung", fauchte Netzer seinen Trainer an, als sie vor einem Europacupspiel in Mailand über die Taktik stritten. Kamen Netzers Pässe nicht präzise und schnell genug, blaffte Weisweiler: "Abseits ist, wenn das lange Arschloch zu spät abspielt."

Zweimal wurden Weisweiler und Netzer zusammen Meister, 1970 und 71. Sie prägten, mit Beckenbauer und Gerd Müller, die glanzvollste Epoche im deutschen Fußball. Weisweiler als Talentförderer und konsequenter Verfechter des Angriffsfußballs, Beckenbauer und Netzer mit ihrer Intelligenz und Spielkunst, Müller mit seinen Toren. In England irritierten Libero Beckenbauer und Mittelfeldlenker Netzer den Gegner durch häufige Positionswechsel. Das vom Boulevard "Ramba-Zamba" getaufte Verwirrspiel der beiden Strategen war Grundlage für den unverhofften Triumph.

Im Verein hatten die Münchner mehr Erfolg. "Bayern spielte rationaler, Gladbach schöner", vergleicht Beckenbauer. Daraus ergab sich in der Nationalelf eine nie wieder erreichte Verbindung von Effizienz und Attraktivität. Bei der Europameisterschaft, so Jupp Heynckes, "haben sich die beiden Blöcke super ergänzt. Wir Borussen übernahmen Tempowechsel und Cleverness der Bayern, die unseren Angriffselan." Das war in den Brüsseler EM-Tagen ein von den Spielern häufiges, wenngleich nicht ganz ernsthaft diskutiertes Thema. "Allein kommt ihr mit eurer Schönspielerei doch zu nichts", sagten die Münchner. Und die Gladbacher konterten: "Endlich ist mal Schwung in euren Schlafwagenfußball gekommen."

Die Verkörperung des Zeitgeistes

Wenn Netzer heute erzählt, er habe 70-Meter-Pässe gespielt, "weil ich ungern gelaufen bin", ist das mehr Koketterie als die Wahrheit. Der austrainierte Netzer war laufstark, forderte den Ball. Erst mit zunehmendem Alter kam er nach Verletzungspausen schwerer auf Touren. Deshalb musste er bei der WM 1974 Wolfgang Overath den Vortritt lassen. Und deshalb verzichtete auch Weisweiler im Pokalfinale gegen Köln, Netzers letztem Spiel für die Borussia, zunächst auf ihn. Empört wollte Netzer abreisen, blieb auf Zureden von Heynckes und war am Abend dieses unvergesslichen 23. Juni 1973 doch der Gewinner. Zur Verlängerung wechselte er sich für den erschöpften Christian Kulik selber ein und schoss spektakulär das Siegtor.

Ebenso wenig wie ein Rebell war Netzer die Verkörperung des Zeitgeistes. Wenn im Freundeskreis die gesellschaftliche Relevanz seiner raumöffnenden Pässe diskutiert wurde, sagte er: "Eigentlich suche ich nur einen Weg, um ein Tor zu erzielen." Netzers damalige Freundin Hannelore Girrulat, eine Goldschmiedin, hatte ihn mit Leuten aus der Kunstszene zusammengebracht. Es gefiel Netzer, dass Markus Lüpertz Parallelen zwischen Mal- und Fußballkunst entdeckte.

Doch er war erstaunt, wenn man in ihm mehr als einen Mittelfeldspieler sehen wollte. Manches sei ohnehin Pose gewesen, bekennt Netzer in der Autobiografie "Aus der Tiefe des Raumes". Die Fotos etwa, die ihn mit dem Champagnerglas in der Hand am Tresen seiner Diskothek lovers' lane zeigen. Netzer trank kaum, er war auch nicht unbedingt ein geselliger Wirt. Meist stand er allein in einer Ecke des Lokals und studierte die Gäste.

Auf der nächsten Seite: Wie Netzer wegen seinem Ferrari in Erklärungsnot geriet - und am Ende doch alles ganz harmlos war.

Der Ramba-Zamba-Rebell

Netzer brauchte Distanz. Seine Mitspieler ließ er wissen: "Das Gerede von den elf Freunden ist kompletter Blödsinn." Fußball war für ihn der Weg, den kleinbürgerlichen Verhältnissen - Vater Christian verkaufte Blumensamen, Mutter Barbara hatte einen Tante-Emma-Laden - zu entkommen. 50.000 Mark Handgeld, 160 Mark Monatsgehalt plus 10 Mark pro Spiel zahlte ihm Borussia im ersten Profijahr. Mit 14 hatte er das Gymnasium verlassen, die Handelsschule und eine Kaufmannslehre absolviert. Netzer fuhr Ferrari und unterschied sich auch äußerlich von anderen Fußballern: Er trug schwarze Kleidung und lange Haare. Freundin Hannelore hatte gesagt, mit Kurzfrisur "sähe ich bescheuert aus".

Netzer in Erklärungsnot

Abends flüchtete Netzer vor der Enge Mönchengladbachs öfters nach München, wo er mit TV-Regisseur Michael Pfleghar und wechselnden Gefährtinnen die Nacht durchmachte. Um 6.30 Uhr ging die Frühmaschine zurück nach Düsseldorf, für zehn hatte der nichts ahnende Weisweiler Training angesetzt. Zu Netzers Glück gab es noch keine Hobbyreporter mit Handys, die ihre Fotos online stellen. "Unter heutigen Bedingungen", so Netzer, "wäre mein Rauswurf unvermeidbar."

Kurz vor der EM 72 geriet er allerdings in Erklärungsnot. Netzers Ferrari, meldete der Kölner Express, sei am Elternhaus von Elke Sommer gesichtet worden. Die blonde Pfarrerstochter aus Erlangen, die in Hollywood Karriere machte, und der Fußballstar wären sich bei Dreharbeiten zu einer Pfleghar-Show näher gekommen. Alles ganz harmlos, beruhigte Netzer die aufgebrachte Hannelore. Offenbar waren die Zeiten doch nicht so wild wie angenommen. Netzer beteuert heute noch, bei seinen Abstechern nach Erlangen mit Elke Sommer und ihrer Mutter lediglich Skat gespielt zu haben.

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