Süddeutsche Zeitung

DFB-Elf bei der Fußball-EM:Das Mittelstürmerland sucht einen Mittelstürmer

Früher gab es Seeler, Müller, Rummenigge oder Klinsmann. Und heute? Findet sich bis in die Jugendmannschaften hinein kein richtiger Torjäger - der DFB hat ein ernstes Problem.

Von Christof Kneer

Jetzt aber, jetzt würde es fallen, wenigstens in der 93. Minute. Jetzt würde Thomas Müller endlich sein Tor schießen. Es würde wohl nicht mehr reichen, um diesem Spiel noch eine Verlängerung abzutrotzen, aber wenigstens würde es nach dem Spiel mal ein anderes Thema geben. Zum Beispiel könnten die Medien zur Abwechslung mal was über Fußball schreiben, und sie könnten endlich den Müller in Frieden lassen. Weil die Geschichte vom Müller, der sein Tor sucht, die hat eigentlich schon die ganze Zeit kein Mensch gebraucht, und jetzt hätte sie sich sowieso erledigt. Weil eben: Eins zu zwei durch Müller, 93. Minute.

Allerdings hat der Stadionsprecher in Marseille sich dann geweigert, Müllers Tor durchzusagen, auch auf der Tafel erschien es nicht. Das hatte weder mit Unhöflichkeit noch mit vorauseilender Siegestrunkenheit zu tun, sondern mit dem Umstand, dass das Tor, dieser Saupreiß, es sich in der 93. Minute doch noch anders überlegt hatte. Es fiel nicht. Und bei näherem Hinsehen wurde dann doch wieder eine kleine Müller-Geschichte draus.

Bei näherem Hinsehen erkannte man nicht nur Müllers Turnierpech wieder, als Frankreichs Torwart Hugo Lloris den Ball mit einer sittenwidrigen Parade abwehrte. Man fand auch Müllers gesamtes Turnier-Schlamassel bündig zusammengefasst: Man sah ihn nach Mustafis Flanke hochsteigen, und man sah, wie in Wahrheit der kleine Kimmich den Kopfball setzte und wie ihn der große Müller dabei behinderte.

Thomas Müller hat ein Turnier hinter sich, für das die Sportreporter irgendwann mal das Attribut "unglücklich" erfunden haben, aber vielleicht wird es Müller trösten, dass seine Missgeschicke am Ende doch nicht groß genug waren, um damit diese Niederlage im Halbfinale zu erklären. Zwar enthielt das Turnier durchaus eine Müller-Geschichte, aber wenn die Sportstrategen beim DFB nun diese EM analysieren, dann wird es ihnen nicht um Müller gehen, den sie weiterhin für verlässlich und mindestens unersetzlich halten.

Es wird eher um die Frage gehen, warum dieser Müller so unersetzlich ist. Warum die Tore, die er ausnahmsweise mal nicht schießt, dann von keinem anderen geschossen werden.

Müller ist kein Mittelstürmer, es bekommt seinem Spiel nicht, wenn er vorne drin den Mittelstürmerraum besetzt halten muss; sein Spiel lebt ja davon, dass er überhaupt keinen Raum besetzt hält, außer jenem, den gerade keiner von ihm erwartet. Aber nach Mario Gomez' Ausfall ist Joachim Löw kaum etwas anderes übrig geblieben, als Thomas Müller gegen Frankreich in jenen Raum zu schicken, den Uwe Seeler, Gerd Müller, Horst Hrubesch, Rudi Völler und Jürgen Klinsmann einst zu einem urdeutschen Raum gemacht haben.

Deutsche EM-Schützen

5 Tore

Jürgen Klinsmann 1988-1996

Mario Gomez seit 2008

4 Tore

Lukas Podolski seit 2004

Gerd Müller 1972

Dieter Müller 1976

Rudi Völler 1984-1992

3 Tore

Bastian Schweinsteiger seit 2004

Miroslav Klose 2004-2012

Klaus Allofs 1980

Karlheinz Riedle 1992

Wer im Halbfinale mehr vermisst wurde, er oder Gomez, wurde der gesperrte Verteidiger Mats Hummels gefragt. Seine Antwort kam so schnell, dass sie unter keinerlei Koketterie-Verdacht fiel. "Mario!", sagte Hummels, "wir haben defensiv ja keinen schlechten Job abgeliefert. Gefehlt hat einer, der den Ball rein schießt." Und Toni Kroos meinte, das Einzige, was man sich vorwerfen könne, sei, "dass wir in diesem Turnier nicht ganz so kaltschnäuzig waren und unsere Chancen nicht so konsequent genutzt haben wie vor zwei Jahren". Die Deutschen haben sechs EM-Spiele gebraucht, um jene sieben Tore zu erzielen, die sie bei der WM im Halbfinale gegen Brasilien hinbekommen haben.

Das Mittelstürmerland sucht einen Mittelstürmer: Die Geschichte ist nicht neu, aber das Mittelstürmerland hat den Mangel zuletzt meist so grandios verwalten können, dass es sogar Weltmeister damit wurde. Die Verwaltung des Mangels hat oft sogar Spaß gemacht, die fidelen Techniker im Team haben ihre Chancen immer sehr vergnügt vergeben, und dank Miroslav Klose und Thomas Müller haben sich die Deutschen dieses Unterhaltungsprogramm meistens leisten können. In Frankreich haben die Deutschen nun aber erleben müssen, wie schwierig es sein kann, selbst den hochwertigsten Fußball ins Ziel zu bringen, wenn die bisher dafür Verantwortlichen nicht mehr (Klose) oder irgendwie nicht g'scheit (Müller) dabei sind.

Hansi Flick ist in Marseille auch auf der Tribüne gesessen, er ist der Sportdirektor im Verband und kraft Amtes jener Mann, der dem deutschen Fußball seine Müller-Abhängigkeit wegorganisieren muss. Auf Mario Gomez wird sich der Weltmeister nicht ewig verlassen dürfen, es ist erstaunlich genug, dass der demnächst 31-Jährige nach seinem imposanten Comeback vorübergehend wieder jene Planstelle besetzt hält, die er längst verloren zu haben schien.

Und dass der sogenannte WM-Held Mario Götze den deutschen Fußball noch mal rettet, wird mit jedem Tag unwahrscheinlicher; ihn hat Löw eher aus nostalgischer Gewohnheit denn aus Überzeugung eingewechselt. Wobei sich die Beobachter später nicht ganz sicher waren, ob er tatsächlich eingewechselt wurde: Auf dem Rasen angekommen ist er jedenfalls nicht.

Im vergangenen Jahrzehnt haben die Leistungszentren lauter Feintechniker ausgebildet, den zentralen Stürmer haben sie dabei irgendwie vergessen. Flick hat nach der WM bereits damit begonnen, die Juniorentrainer für diese urdeutsche Position zu sensibilisieren, er hat sie auch ermuntert, die 4-2-3-1-System-Routine zu brechen und ruhig mal einen zweiten Stürmer aufzustellen. Im Jugendfußball werden Erfolge aber eher in Jahren gemessen, und so könnte es schon noch eine Weile dauern, bis der arme Müllerthomas nicht mehr die ganze Last der Geschichte auf seinen schmalen Schultern tragen muss.

Am Montag beginnt in Deutschland die U 19-Europameisterschaft, im deutschen Sturm spielt der 18 Jahre alte Janni Serra, ein Dortmunder mit klassischer Mittelstürmerfigur (1,92 Meter). Man könnte ihn nun loben, preisen und öffentlich zum Hoffnungsträger ausrufen, aber beim DFB sind sie vorsichtig geworden. Der letzte Held eines Nachwuchsturniers, der Mittelstürmer Davie Selke, saß in Leipzig zuletzt häufiger auf der Ersatzbank.

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Quelle:
SZ vom 09.07.2016/schm
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