Fußball-EM 1960 - 1968:Das albanische Grauen

Die erste EM-Teilnahme endet für das bundesdeutsche Team 1968 mit einem Fiasko in Enver Hodschas finsterem Kommunismus.

Kurt Röttgen

Vom Optimismus einer rheinischen Frohnatur ließ sich sogar der immer vorsichtige Bundestrainer mitreißen. "Kinn Sorch, Herr Schön, ich mak dat schon", sagte Peter Meyer bei der Mannschaftssitzung im breiten Düsseldorfer Platt. Mit gleich sechs Offensivkräften gingen die Deutschen voller Zuversicht in das entscheidende EM-Qualifikationsspiel gegen Albanien. "Spielt möglichst unbekümmert", rief Helmut Schön am Nachmittag des 17. Dezember 1967 seiner Truppe hinterher.

Fußball-EM 1960 - 1968: Die DFB-Auswahl war in der Qualifikation in Tirana gescheitert.

Die DFB-Auswahl war in der Qualifikation in Tirana gescheitert.

(Foto: Foto: dpa)

Einige Stunden später suchte er an der Bar des Daitji-Hotels in Tirana mühsam nach Erklärungen für den schwärzesten Tag des deutschen Fußballs. Durch das 0:0 war die Nationalelf des DFB zum einzigen Mal bei einer Europa- oder Weltmeisterschaft in der Qualifikation gescheitert.

Ungewöhnlichste Reise einer DFB-Auswahl

Dass weder der seinerzeit erfolgreichste Bundesliga-Stürmer Meyer noch Siegfried Held oder Hannes Löhr die albanische Deckung überwanden, erschien dem konsternierten Schön wie das biblische Gleichnis von David und Goliath: "Wenn ein Kleiner gegen einen Großen antritt, werden Kräfte frei, von denen keiner weiß, woher sie kommen."

Auch nach vier Jahrzehnten sind die Erinnerungen an die ungewöhnlichste Reise einer deutschen Nationalmannschaft nicht verblasst. Etwa an den "Kartoffelacker" (Löhr) im Kemal-Staf-Stadion, auf dem heute kein Länderspiel mehr ausgetragen würde.

Oder, so Kapitän Willi Schulz, an den "Fanatismus", mit dem sich die Albaner vor 30.000 tobenden Landsleuten gegen den vermeintlich übermächtigen WM-Zweiten von 1966 stemmten. Was Trainer Loro Borici mit einem albanischen Sprichwort erklärte: "Vor seinem eigenen Herd und seinen Weibern ist jeder Mann stark."

"Mehr als zu null geht nicht"

Wolfgang Weber sieht sich noch manchmal deprimiert im Hotelzimmer hocken, das er damals mit Schulz teilte. "Auch wenn die EM nicht den heutigen Stellenwert hatte, war ich nach unserem Ausscheiden am Boden zerstört", erzählt der Kölner, wegen seines athletischen Abwehrspiels "Bulle" genannt. Und er hat immer noch im Ohr, wie der listige Schulz die Pleite rasch in einen Teilerfolg umdeutete: "Hör mal, Bulle", resümierte Schöns Abwehrchef, "mehr als zu null spielen kannste hinten nicht."

Vor allem aber blieben die Verhältnisse in einem Land haften, wo die Kommunisten gerade den Menschen neu erschaffen wollten. Parteiführer Enver Hodscha überwachte sein Zwei-Millionen-Volk mit der Geheimpolizei Sigurimi, die Grenzen zu den Nachbarn Griechenland und Jugoslawien waren dicht. Der Privatbesitz von Kraftfahrzeugen war ebenso verboten wie der Gebrauch von Verhütungsmitteln. Kurz vor dem Gastspiel der Deutschen erklärte Hodscha Albanien zum atheistischen Staat, in dem Religionsausübung unter Strafe stand. Kirchen und Moscheen wurden geschlossen, Geistliche eingesperrt oder umgebracht.

Die Befürchtungen, dass es wegen den längeren Haaren einiger Spieler Komplikationen bei der Einreise geben könnte, erwiesen sich als unbegründet. Dafür waren jedoch auf dem Rollfeld des Flughafens Tische mit Schüsseln aufgebaut, in die jeder Passagier nach dem Verlassen der Maschine die Hände tauchen musste. "Eine Art Seifenlauge", sagt Weber. "Die hatten offenbar Angst, dass wir ihr Land mit Bakterien verseuchen."

Auf der nächsten Seite: Kein Trost vom Papst für Helmut Schön, die Forderung nach Merkel und welche eindrucksvolle Bilanz "der Mann mit der Mütze" am Ende hinterließ.

Das albanische Grauen

Der seit dem Rückzug der Deutschen Wehrmacht im November 1944 bis zu seinem Tod 1985 herrschende Hodscha führte den Balkanstaat in die totale Isolation. Die Besucher aus dem Wirtschaftswunderland BRD wurden von den armen Albanern bestaunt oder freundlich angelächelt, wenn sie im klapprigen Bus durch Tirana schaukelten. "Ihre Herzlichkeit war auch ohne Verständigung spürbar", erkannte Weber. Im Hotel genierten sich die Kellner, dass sie ihre Gäste nicht ausgiebiger bewirten konnten. "Das Eier-Kombinat hat wieder gut gearbeitet", juxte Torwart Horst Wolter, wenn statt Fisch oder Fleisch erneut Rühreier mit Erbsen und Möhren serviert wurden. Ein Koch gehörte noch nicht zum DFB-Tross, die Einfuhr von Lebensmitteln war untersagt.

"Laßt doch mal den Merkel ran"

Zumindest die Heimreise versprach Erbauliches. Am Tag nach dem Desaster im Kemal-Staf-Stadion war in Rom eine Audienz bei Papst Paul VI. vorgesehen, der jedoch wegen Erkrankung absagte. Statt Trost vom Stellvertreter Gottes gab es für Helmut Schön Zunder von der Bild-Zeitung. "Laßt doch mal den Merkel ran!", forderte das Boulevardblatt in großen Buchstaben auf der Titelseite. Seine Nürnberger "hätten Albanien an die Wand gespielt".

Max Merkel war der Erfolgscoach der sechziger Jahre. Er machte 1860 München zum Meister, Pokalsieger und Europacup-Finalisten, führte Borussia Dortmund auf Platz zwei. Zwei Wochen vor Schöns missratenem Albanien-Trip fegte der von Merkel trainierte 1.FC Nürnberg die Bayern mit Maier, Beckenbauer, Müller 7:3 vom Platz, hatte am Schluss der Hinrunde sieben Punkte Vorsprung und holte 1968 souverän den neunten Meistertitel der Vereinsgeschichte. Und dazu beherrschte Merkel als erster Trainer der noch jungen Bundesliga das Spiel mit den Medien.

Während der dünnhäutige Schön Journalisten jedes halbwegs kritische Wort verübelte, lautete Merkels Motto: "Egal was ihr schreibt, mein Name kann gar nicht oft genug in der Zeitung stehen." Er trat als Dompteur bei "Stars in der Manege" auf, haute als "Großer Zampano" für Fotografen auf die Pauke und hatte stets einen flotten Spruch in petto - auch wenn's manchmal teuer wurde. 10.000 Mark Strafe brummte ihm der DFB im November 1967 für die Bemerkung auf: "Das einzig Positive in Köln ist der Geißbock, und der stinkt noch."

Ein Spiel ohne raumöffnende Pässe

Diesen Draufgänger hätten viele lieber zum Bundestrainer gehabt als den Zauderer Schön, dem in seiner Heimatstadt Dresden nachgesagt wurde: "Een direggder Lewe is er nich." Aber als der Mann mit der Mütze 1978 nach vierzehnjähriger Amtszeit ging, hinterließ er eine eindrucksvolle Bilanz: Weltmeister, WM-Zweiter und WM-Dritter, Sieger und Zweiter bei Europameisterschaften. "Bei Friedrich dem Großen hätte einer mit so viel Fortüne nicht nur das Gardekorps, sondern dazu Tabakdosen und Flöten betreuen dürfen", lästerte zwar der auch als Kolumnist gefürchtete Merkel, weil Deutschland vor Turnieren oft leichte Gegner zugelost wurden. Schöns Erfolge können jedoch weder sein legendärer Vorgänger Sepp Herberger noch sämtliche Nachfolger vorweisen.

Kritikern an seiner Albanien-Elf hielt Schön entgegen, er habe bis auf die verletzten Uwe Seeler und Franz Beckenbauer die Besten der Bundesliga genommen. Was stimmte, jedoch im mit Hennes Küppers, Günter Netzer und Wolfgang Overath hochkarätig besetzten Mittelfeld zu Abstimmungsproblemen führte. Die Spielmacher Netzer und Overath, privat befreundet, standen sich auf dem Platz nur im Weg. In 14 Länderspielen probierte es Schön mit ihnen gemeinsam - es klappte fast nie. Einmal, so Netzer, "rannten wir uns im Bemühen, Ball und Regie zu übernehmen, sogar gegenseitig um".

In Tirana vermisste man bei beiden die raumöffnenden Pässe. "Nicht ein Ball wurde mir in den Lauf gespielt", klagte Mittelstürmer Meyer. Er hatte den Vorzug vor Gerd Müller erhalten, dem vierfachen Torschützen beim 6:0 gegen die Albaner acht Monate zuvor in Dortmund. "Wie ein kleines Kind", erzählte Erika Meyer, habe sich ihr Mann auf das erste Länderspiel gefreut. "Immer wieder musste ich ihm den Brief mit der Einladung vorlesen."

Auf der nächsten Seite: Das Aus für Meyer, wie die Spieler über Schön urteilten und was Weber heute macht.

Das albanische Grauen

Meyer war im Sommer 1967 vom Absteiger Düsseldorf zu Borussia Mönchengladbach gewechselt, hatte in den 17 Spielen bis zur Winterpause sensationelle 19 Treffer erzielt. Doch Anfang Januar 1968 endete für den 27-Jährigen der Traum von der späten Karriere. Beim Training brach ihm Schien- und Wadenbein, danach spielte er nur noch eine Halbzeit lang in der Bundesliga.

"Wegen ihm kam jeder gern zur Nationalelf"

Die Urteile der Spieler über den später an Alzheimer erkrankten, 1996 in einem Wiesbadener Pflegeheim verstorbenen Schön sind im Tenor gleich: "Ein leiser Mensch" (Netzer), "feinfühlig, hochintelligent, förderte unsere Selbstverantwortung" (Schulz), "wegen ihm kam jeder gern zur Nationalelf, das war das Geheimnis seiner Erfolge" (Beckenbauer). Dass der sensible Opernfreund nach Merkels Überzeugung "im Hurengeschäft Vereinsfußball" gescheitert wäre, ist gut denkbar. Es mangelte ihm an Härte, wohl auch an Egoismus. "Er hat sich immer vor die Mannschaft gestellt, selbst nach der Pleite in Tirana", sagt Weber.

Wie Held und Löhr wurde aus dem Albanien-Team auch Weber Bundesliga-Trainer. Allerdings nur für eineinhalb Jahre bei Werder Bremen. "Alles verantworten zu müssen war für mich nicht der richtige Job", bekennt er. Der knapp 64-Jährige macht in Köln Fußball-Training mit vorwiegend unter dem Down Syndrom leidenden Jugendlichen. Er ist deutscher Botschafter der von John F. Kennedys Schwester Eunice Shriver gegründeten Special Olympics, die weltweit größte Sportbewegung für geistig behinderte Menschen.

"Ich bin immer wieder begeistert", sagt Weber, "was ein erzieltes Tor bei den Jungs und Mädchen alles auslösen kann. Das ist Freude pur."

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