Die zweite Halbzeit hatte noch nicht begonnen, da dirigierte Granit Xhaka schon wieder. „Granit meinte kurz vor dem Anpfiff zur zweiten Halbzeit zu mir, ich soll bitte noch ein Tor machen“, berichtete Ruben Vargas nach dem Spiel. Die Schweiz lag auf dem Weg aus der Kabine 1:0 in Führung, sie dominierte eine Partie nach Belieben, von der niemand erwartet hatte, dass die Schweiz sie nach Belieben dominieren würde. Nur lautet eine fußballhistorische Regel bei großen Turnieren, dass ein 1:0 gegen eine italienische Nationalmannschaft kein komfortables Ergebnis ist, weshalb Xhaka sich zu klaren, motivierenden Ansagen an seine Mitspieler genötigt sah. Und wie bei den Schweizern üblich, hörten sie ihrem Kapitän zu – und folgten seinen Hinweisen umgehend.
Ein schlecht vorgetragener Anstoßtrick der Italiener brachte die Schweiz umgehend in Ballbesitz, Xhaka spielte direkt nach vorne. Ein paar Stationen später drang Vargas in den Strafraum ein und erhielt schon wieder einen Hinweis von seinem Chef auf dem Platz. „Granit hat gerufen, ich soll schießen“, sagte Vargas: „Also habe ich das gemacht.“
Deutschland gewinnt 2:0 gegen Dänemark:Um Fuß- und Fingerspitzenbreite
Zwei Videobeweise innerhalb von drei Minuten lassen das EM-Achtelfinale in Richtung DFB-Team kippen. Dänemarks Trainer ist wütend, Julian Nagelsmann spricht von einem wilden Spiel – und nimmt bis zum Viertelfinale ein paar Aufgaben mit.
In einem wundervollen Bogen flog der Ball kurz darauf ins Kreuzeck, nach 45 Minuten und ein paar Sekunden war dieses Achtelfinale damit schon entschieden, weil die Italiener umgehend wieder die Köpfe so hängen ließen wie auf dem Weg in die Kabine zur Pause. Vargas jubelte, Xhaka legte kurzzeitig seinen Taktstock zur Seite, um den Schützen hochleben zu lassen. Und es blieb am Ende nur die Frage, die sich nach solch eindeutigen Partien häufig stellt: War die Stärke der einen ausschlaggebend – oder doch die Schwäche der anderen?
Granit Xhaka ist der vielleicht dominanteste Spieler des Turniers
Zu Recht wird nach dieser Partie viel über die schwachen Italiener zu reden sein, die der Schweizer Defensive kaum Aufgaben stellten. Gleichzeitig aber steht dieses 2:0 für eine historisch gute Leistung einer Schweizer Mannschaft, der viel zuzutrauen ist, weil ihr Erfolg am Samstagabend in Berlin nicht auf Einzelleistungen beruhte. Es brauchte keinen der sagenumwobenen Wunderschüsse von Xherdan Shaqiri, der gar nicht erst spielte. Es brauchte auch kaum Dribblings, Einzelaktionen oder heldenhafte Paraden von Torhüter Yann Sommer. Das alles waren die Errungenschaften der Vergangenheit, als die Schweiz den Ruf einer Turniermannschaft erlangte, weil sie Widerstandskraft und Einsatzwillen zeigte.
Der Erfolg diesmal war eine eindeutige, systematische Überlegenheit auf dem gesamten Feld, die jeder im Turnier verbliebenen Mannschaft Sorgen bereiten sollten. „Unsere Reise ist noch nicht zu Ende“, sagte Trainer Murat Yakin später: „Denn egal, gegen wen wir spielen, wir werden unsere Chancen haben.“
Diese Chancen erarbeiteten sich die Schweizer auch gegen Italien über ihr brillantes, flexibles Passspiel, das angeführt wird vom Dirigenten Xhaka, dem vielleicht dominantesten Spieler des Turniers. Mit seinen Händen deutet der Leverkusener in alle möglichen Himmelsrichtungen: Er verschiebt Mitspieler wie Schachfiguren um sich herum im Pressing, und wenn sie dann am Ball sind, zeigt er ihnen den Ausweg aus jeder Situation. Xhaka hat sichtbar Freude daran, Elemente aus dem Fußball von Xabi Alonso bei den Schweizern einzubringen, etwa dann, wenn er drei Gegenspieler auf sich zieht und so Freiräume für andere schafft.
Beim 1:0 gelang ihm das, als drei Italiener in die Xhaka-Falle an der Mittellinie liefen, Manuel Akanji dadurch Zeit gewann für einen öffnenden Pass und Remo Freuler in den Strafraum einlief, wo Vargas ihn bediente. Erneut war in Freuler damit einer der drei Bologna-Spieler im Kader an einem Schweizer Treffer beteiligt, denen wie Xhaka und Akanji der Fußballintellekt, den sie bei ihren Vereinen erlernt haben, in jeder Spielsituation anzumerken ist.
„Wir müssen am Boden und bescheiden bleiben“, sagt Trainer Yakin
Doch auch Trainer Yakin gebührte am Samstag ein Lob. Die Idee, vorne mit Breel Embolo zu spielen und dafür den offensiven Dan Ndoye anstatt des defensiven Silvan Widmer auf die rechte Seite zu schieben, ging auf. Die Italiener waren überfordert mit den Flügelangriffen. So wie überhaupt alles zusammenpasste in Berlin, wo sich die Schweizer in einer bemerkenswerten Euphorie wiederfanden, die auch aus dem Publikum zurückkam, das noch eine Dreiviertelstunde nach Spielschluss im Olympiastadion seine Nati besang.
Yakin galt vor einigen Wochen noch als einer der am skeptischsten beäugten Trainer des Turniers, er dürfte gerade regelmäßig eine gewisse Genugtuung gegenüber seinen vielen, in der Schweiz gewohnt lautstarken Kritikern empfinden. „Wir müssen am Boden und bescheiden bleiben“, sagte er allerdings nach dem Sieg gegen Italien nur. Er nahm sich selbst beim Wort – auch im Wissen, dass die Schweiz bei vergangenen Turnieren oft genug im Viertelfinale gestanden hatte, aber nie darüber hinausgekommen war.
2021 war das zuletzt der Fall, in Sankt Petersburg verlor die Schweiz damals ihr Viertelfinale im Elfmeterschießen gegen Spanien. Die Bilder hat die Mannschaft heute noch gut im Gedächtnis. Etwa, wie der damals 21-jährige Vargas nach seinem verschossenen Elfmeter von Shaqiri und dem Spanier Thiago auf dem Rasen getröstet wurde. Er hat sich aus diesem Moment heraus entwickelt, so wie die gesamte Schweizer Mannschaft, die den entscheidenden Sprung aber erst in den vergangenen Monaten gemacht hat: Der Spieler des Achtelfinals war Vargas, die erste Geige von Dirigent Xhaka, in einem 90-minütigen Konzert, für das man der gesamten Mannschaft eine Auszeichnung hätte verleihen können.