Italien bei der Fußball-EM:Am liebsten noch das vierte Tor

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Ein Eigentor der Türkei bringt das 1:0: Italien startet erfolgreich in die EM (Foto: Filippo Monteforte /AFP)

Italien meldet sich mit einem berauschenden 3:0 gegen die Türkei im Eröffnungsspiel der EM zurück. In Rom erleben die Zuschauer eine Stimmung, wie es sie seit 15 Monaten nicht gegeben hat.

Von Philipp Schneider, Rom/München

Wenn es stimmt, dass jede Europameisterschaft das Eröffnungsspiel erhält, das sie verdient, dann war dieses Schauspiel am Freitagabend im Olympiastadion von Rom ein interessantes Omen. Offensive Italiener trafen auf den defensiven Geist ihrer Vorfahren, der nun aber in die Türken gefahren war.

Das alles ging eine ganze Weile gut, also aus Sicht der Türken, dann aber rauschte von rechts eine Flanke vors Tor, die jemanden erwischte, der gar nicht als Empfänger gedacht war. Und der es selbstverständlich nicht verdient hatte, nun der erste Torschütze dieses erst 53 Minuten alten Turniers zu werden: der Innenverteidiger Merih Demiral, an gewöhnlichen Werktagen in Diensten von Juventus Turin, wurde abgeschossen von Italiens Flügelkraft Domenico Berardi. Tapfer versuchte Demiral, sich auf den Beinen zu halten. Dann fiel er um. Und der Ball tropfte ins Tor.

Danach war der defensive Bann gebrochen, Ciro Immobile erhöhte auf 2:0 (66.) - und nach einem unglaublichen Abstoß von Torwart Ugurcan Cakir vor die Füße der Italiener, schob Lorenzo Insigne zum 3:0-Endstand ein (79.). In Erinnerung wird aber bleiben, dass diese merkwürdige Europameisterschaft, die in elf Nationen ausgetragen wird, mit einem überaus seltsamen, wenn auch nicht unverdienten Eigentor eröffnet wurde.

Davor: die offizielle Eröffnung. So eine Zeremonie bei einem sportlichen Großereignis will immer auch ein Spiegel der Weltenlage sein. Über die derzeitige ist alles geschrieben. Alles wirkt noch wie klinisch runtergedimmt. Die Menschheit rutscht nach überquertem Pandemie-Gipfel ermattet ins Tal. Aber das Leben kehrt zurück. Auch in Rom, wo die Menschen am Freitagabend wieder mehr Nähe und sogar ein bisschen Pyro wagten. Sie versammelten sich an der Piazza del Popolo, dem nördlichen Ende der Flanier- und Shoppingmeile Via del Corso. Und die beneidenswerte Minderheit der Geimpften, Genesenen und Getesteten saß nach einem klar erkennbaren Hygienemuster sortiert (zick-zack!) leibhaftig im Stadion. Italien spielte zur Eröffnung Fußball gegen die Türkei.

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Wie eröffnet man ein Turnier, das für viele noch zu früh kommt? Die Römer ließen den Tenor Andrea Bocelli im Stadio Olimpico singen, der als Kind erblindete. Bocelli schmetterte die Arie des Prinzen Kalaf aus Giacomo Puccinis Turandot: "Nessun dorma", niemand schlafe. Anstatt zu schlafen, so wird es in der Oper besungen, sollen die Untertanen der Prinzessin lieber Kalafs Namen herausfinden, dann nämlich muss ihn Turandot nicht heiraten. Das ist der Deal. Niemand soll ruhen, alle müssen recherchieren. Sonst droht die Todesstrafe.

Ein Ensemble mit so feinem Klang, als habe es Michelangelo aus dem Stein gehauen

Welchen Kontrast da Italiens Fußballtrainer Roberto Mancini zur grausamen Prinzessin bildete, als am Freitagabend im Olympiastadion der Ball endlich rollte. Auch wenn das Ergebnis dasselbe war: Seine Spieler recherchierten zwar nicht, aber sie rannten immer weiter. Mancini, der immer so aussieht, als komme er gerade vom Herrenausstatter. Wo er garantiert nie bezahlen muss, weil der Verkäufer völlig begeistert ist, dass sein Anzug endlich mal so gut aussehen darf. Auch Mancini, ein ehemaliger Mittelfeldstratege mit Zug zum Tor, wie es so schön heißt, ist wie ein Schlafloser seit Jahren getrieben. Beseelt von der Mission, die Squadra Azzurra aus dem düsteren Tal ans Licht zu führen. Er übernahm, nachdem der viermalige Weltmeister (und einmalige Europameister) 2018 tatsächlich die Qualifikation für eine Weltmeisterschaft verpasst hatte. Wenngleich nur für die in Russland.

Auf der einen Seite stand nun die Abwehrreihe der Azzurri. Ein erfahrenes Ensemble mit so feinem Klang, als habe es Michelangelo aus dem Stein gehauen: Florenzi. Bonucci. Chiellini. Spinazzola. Hinter ihnen Donnarumma, der Torwart mit dem wuchtigen Klang eines Lawinenabgangs; vor ihnen zentral in der Spitze ein ehemaliger Dortmunder, inzwischen bei Lazio: Immobile, der auch während der Pandemie nicht an Wert verloren hat.

Schon in der Qualifikation für dieses Turnier hatten die Türken nur drei Gegentore bezogen. So etwas konnten früher nur die Italiener von sich behaupten, als sie noch ihren berüchtigten Catenaccio befehligten, das Bollwerk, dessen geheimnisvolle Rezeptur einst von einer Generation zur nächsten vererbt wurde. Lange her alles.

Unter Mancini stehen die Italiener hinten sicher, aber nach vorne spielen sie phantasievoll. Und wenn sie es wie am Freitag mit einem nervtötenden Gegner zu tun, der sich verschanzt, dann rennen sie so lang an, bis er aufgibt.

Mit langen Pässen, die die Italiener probierten, war zwar zunächst kein Durchkommen. Nur Immobile schoss wie zum Test das Außennetz an. In Wahrheit aber lockten die Türken die Italiener in ihre Hälfte, um nach Eroberung des Balls blitzschnell umzuschalten - ehe sie mit ihm zu ihrem eigenen Erstaunen nichts anzufangen wussten.

Tosen und Erregung im Olympiastadion

Mancinis Männer erhöhten den Druck. Wenn die Türken den Ball schon nicht haben wollten, dann sollten sie eingeschnürt werden wie eine Handballmannschaft mit dem Rücken zum eigenen Tor. Neapels Legende Insigne schoss aus guter Position am rechten Pfosten vorbei; die beste Chance in der ersten Hälfte aber hatte der 36-jährige Chiellini per Kopf nach einem Eckball. Und als dann Immobile den Ball gegen den angelegten Arm von Söyüncü im Strafraum hämmerte, der angelegter gar nicht hätte sein können, da waren ein Tosen und eine Erregung im Olympiastadion, wie es sie seit dem ersten confinamento, wie der Lockdown in Italien heißt, nicht zu erleben gab.

Ja, der Fußball erhielt am Freitag ein kleines bisschen seine Seele zurück. Ausgerechnet im Eröffnungsspiel einer Europameisterschaft, die ja doch in der Kritik stand, weil sie sich inmitten der Pandemie in so vielen Ländern breitmacht, als habe sie nicht Michel Platini erfunden, der ehemalige Uefa-Präsident, sondern das Virus.

Es war die zweite Halbzeit dieses Eröffnungsspiels, die nicht nur die Geimpften und Genesenen im Stadion entschädigte. Europa sah dabei zu, wie eine italienische Nationalmannschaft trotz Führung immer weiter spielte, Druck machte, am liebsten noch ein viertes Tor erzielt hätte. Auch das hatte man lange nicht gesehen.

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