Süddeutsche Zeitung

Deutsche Fußball-Nationalmannschaft:Plötzlich ein schwieriger Sommer

Das jähe Aus der deutschen Fußballer bei der EM ließ auch die Erfolgsstory vom neuen Publikumsliebling Robin Gosens früh enden - und es setzte ihm schwer zu. Vor dem Neustart unter Hansi Flick strahlt er wieder Zuversicht aus.

Von Philipp Selldorf, Stuttgart

Die Saison hat für Robin Gosens, 27, nicht viel anders begonnen als die vorigen Spielzeiten bei Atalanta Bergamo. Wie üblich startete er als Stammspieler und wie gewohnt ging seine Mannschaft sofort in den Angriff über: Das erste Tor gelang nach sechs Minuten, nach zwei Spieltagen verzeichnet der Klub annehmbare vier Punkte. Im Moment gibt es keine Anzeichen, warum die unerhörte Karriere des ehrwürdigen, aber ein Jahrhundert lang randständigen Provinzklubs in Italiens Serie A nicht weitergehen sollte. Seit 2016 Gian Piero Gasperini den Trainerposten übernahm, gehört Atalanta auf einmal zuverlässig der führenden Gesellschaft in der Liga an, und in diesem Aufsteiger-Märchen gibt Gosens mit seiner Vom-Tellerwäscher-zum-Nationalspieler-Geschichte einen geeigneten Hauptdarsteller ab.

Dennoch war in diesem Sommer bei Gosens alles ganz anders als in den vorigen Jahren, es war sogar, wie er selbst es ausdrückt, "ein unglaublich schwieriger Sommer". So wunderbar die Jahreszeit mit seinem geglückten Einstieg in die EM begonnen hatte, so grausam empfand er den dramaturgischen Bruch, den das deutsche 0:2 im Achtelfinale in England brachte. Beim Vorrundenspiel gegen Portugal hatte Gosens den Deutschen nicht nur sportlich gefallen, mit seinem unbefangenen Charme eroberte er auch die Herzen des Publikums. Vermutlich hätte ihn die Mehrheit des Landes direkt zum Bundeskanzler bestimmt, wenn sie gedurft hätte. Sein Auftritt bei der Partie in Wembley hätte sie darüber wieder nachdenken lassen.

Die Bundesliga bleibt das Wunschziel von Gosens

Jeder hat ja seine eigene Art, ein Scheitern zu verarbeiten. Den Bundestrainer Joachim Löw hat die Öffentlichkeit seit jenem Abend in London nicht mehr zu Gesicht oder zu Gehör bekommen (Zeugen berichten, er sei wohlauf und bei guter Gesundheit). Seinem geschätzten Mittelfeldchef Toni Kroos hingegen war von Weltschmerz nichts anzusehen, als er sich ein paar Tage nach dem 0:2 im ARD-Spätprogramm zum Videointerview sehen ließ. Mit umgedrehter Schirm-Kappe lächelte er in die Kamera und stellte fest, so ein schmuckloses Ende sei zwar schade, aber nicht zu ändern.

Anders als der coole Kross befand sich Gosens zu diesem Zeitpunkt "in Schockstarre", wie er am Dienstag im Teamhotel der Nationalelf berichtete. Mehrere Tage wollte er nicht wahrhaben, was geschehen war. Im inneren Zwiegespräch rief der eine Gosens aus: "Das kann doch nicht sein, dass das Turnier wirklich vorbei ist!", während der andere Gosens die bittere Wirklichkeit bestätigte. Die ungeplante Niederlage hatte ihn nicht nur als Fußballer und Wettkämpfer getroffen, sondern auch aus seiner persönlichen Erfolgsstory gerissen, deswegen also der schwierige Sommer: "Auf mich ist irrsinnig viel eingeprasselt, ich hatte unfassbar viel zu verarbeiten."

Der neue Ruhm als Nationalspieler und zumindest zwischenzeitlicher Turnierheld hat Gosens' Leben verändert. Früher durfte er bei Heimatbesuchen am Niederrhein ungestört durch die Gegend laufen, "ich war ein anonymer Unbekannter und konnte mein eigenes Ding machen". Nun ist er prominent und wird von den Passanten erkannt. Gegen eine Rückkehr nach Deutschland hätte er sich nicht gewehrt, die Bundesliga bleibt sein Wunschziel, doch es gab wohl keine substanzielle Nachfrage auf dem hiesigen Markt. Atalanta und die Serie A sind ihm aber auch willkommen: "Ich bin überhaupt nicht unzufrieden, dass es jetzt ein weiteres Jahr in Bergamo wird. Wir sind eine Top-Mannschaft in Italien und spielen in der Champions League - es gibt deutlich schlechtere Sachen."

"Mein nächstes großes, großes Ziel ist die WM", sagt Gosens

Von Gosens ist bisher nicht exakt bekannt, ob er eher ein Verteidiger, ein Mittelfeldspieler oder Flügelstürmer ist. Sicher weiß man nur, dass er an der linken Außenlinie beheimatet ist. Seine besonderen Fähigkeiten stehen nach zwei stabil starken Jahren mit Atalanta mit einer sehr beeindruckenden Statistik als Schütze und Vorlagengeber eigentlich nicht in Frage, dennoch gibt es Zweifler wie den Bayern-Patron Uli Hoeneß, der nach Gosens' gefeiertem Portugal-Spiel vor allem den portugiesischen Trainer lobte - weil dieser kein taktisches Konzept gegen den ihm offenbar unbekannten DFB-Linksaußen angewendet habe. Hoeneß bezweifelte zudem die technischen Fähigkeiten des neuen Nationalhelden - Gosens nahm es sportlich. Aus den Ferien verbreitete er ein Bild von sich, wie er in Badehose am Swimmingpool einen Ball balanciert; zu Trainingszwecken, wie er - Zwinkersmiley - notierte.

Das Ziel seiner Fortbildung ist, den Platz in der Mannschaft zu behaupten, den er bei der EM erworben hatte. In Stuttgart ist er dabei an den Tatort zurückgekehrt, dort hatte er vor einem Jahr beim 1:1 gegen Spanien sein Debüt gegeben. Inzwischen, findet er, ist er über den Status des Neulings hinausgekommen: "Jetzt kann ich sagen, dass ich in der Mannschaft angekommen bin - nach fünf gemeinsamen Wochen und so einer Turnierzeit, in der man Tag und Nacht aufeinander hockt." Seine weiteren Vorstellungen definiert er entsprechend großräumig: "Mein nächstes großes, großes Ziel ist die WM", sagt Gosens.

Wie sich der Start in die neue Zeit beim DFB gestaltet, hängt aber auch vom neuen Trainer ab, der andere Vorstellungen hat als sein Vorgänger. Aus einer Dreier-Abwehrkette wird bei Hansi Flick vermutlich eine Viererkette werden. In Bergamo praktiziert Gasperini die Dreierkette, aber Gosens interpretiert den Wechsel optimistisch: "Für einen Spieler ist es cool, wenn er mehrere Systeme erlernt und beherrscht."

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