Fußball:Der Stern glüht noch

Denmark v Brazil: Men's Football - Olympics: Day 5

Fußball kann so einfach sein: Der Brasilianer Gabriel Jésus darf einen Kopfball ohne dänische Gegenwehr ansetzen.

(Foto: Felipe Oliveira/Getty Images)

Nach einem holprigen Start qualifiziert sich die Seleção für das Viertelfinale. Nicht Neymar inspiriert Brasilien, sondern Gabriel Barbosa, 18, und Gabriel Jésus, 19.

Von Thomas Kistner

Der Notstand war ausgerufen für Brasiliens Olympia-Fußballer nach zwei torlosen Unentschieden gegen Südafrika und Irak. Das Aus bei den Spielen drohte, die Lage war so brenzlig, dass vor der letzten Gruppenpartie gegen Dänemark ein Coach für den Coach ran musste: Plötzlich stand bei den letzten Übungseinheiten Nationaltrainer Adenor Leonardo Bachi, besser bekannt als Tite, neben dem glücklosen Olympia-Anweiser Rogério Micale. Tite half, die vielbeinige Konfusion zu sortieren, die bislang als Nachwuchs-Seleção durchs Turnier gestolpert und selbst von Nationalheld Neymar nicht zu retten war. Die Schocktherapie zündete, 4:0 siegte die Auswahl und zeigte gleich eine Qualität, die sie übers Viertelfinale gegen Kolumbien in die Medaillenrunde tragen könnte.

Trainer Micale erhält Hilfe von Kollege Tite. Und telefonische Ratschläge von Felipe Scolari

Tite und der überforderte Micale fragten sich vor der Partie, wie sich zwei hochbefähigte Mittelstürmer, die beide Gabriel heißen und einander neutralisieren, effektiv ins Spiel einbinden ließen? Nun, man schiebt sie einfach auf die Flügel raus, Gabriel Jesus nach links, den anderen, Gabriel Barbosa, nach rechts. Dann baut man in der Mitte einen dritten Mittelstürmer ein, Luan. Wirkt jetzt noch ein zentraler Spielgestalter namens Neymar mit, steht einem rasanten Sturmlauf nichts mehr im Wege. Jedenfalls nicht die dänische Auswahl, die in der lärmenden Nacht von Salvador zu besichtigen war und nur die Staffage abgab für Brasiliens Daueroffensive.

Erst traf Gabriel Barbosa, 18, von rechts, dann Gabriel Jésus, 19, von links, schließlich rauschte Luan in der Mitte zum 3:0 heran. Dass Barbosa noch eins drauflegte zum 4:0, erschließt sich schon aus seinem Spitznamen: Gabigol - Gabi Tor.

Brasilien darf aufatmen. Es war ja wieder mal verdammt knapp. "Ohne Spiel, ohne Tore, ohne Liebe" hatte die Zeitung O Globo die torlosen ersten Auftritte stellvertretend für alle Medien gebündelt und sich auf Neymar eingeschossen. Der Nationalheld hatte das olympische Motto, unterm Ringe-Logo seien alle gleich, bis dahin übertrieben wörtlich genommen. Orientierungslos wirkte er, auch etwas füllig. Neymar arbeitet, seit er in Barcelona ist, viel an der Muskulatur, kommt dann noch ein Urlaub dazwischen, fehlt ihm das gymnastische Talent, das ihn ausmacht: die Fähigkeit, mit dem Ball am Fuß in fliegendem Tempo die Richtung zwei-, dreimal zu wechseln oder Sprints wie auf Knopfdruck abzubrechen.

So war das nicht gedacht, als der Verband CBF beschlossen hatte, seinen Besten nicht zum Kontinentalturnier Copa America im Juni zu entsenden, sondern ins Juniorteam bei den Rio-Spielen. Für Neymar kam es knüppeldick. Beim 0:0 gegen den Irak in Brasília skandierten die Fans sogar den Namen der Fußballheldin Marta, wenn er am Ball war: "Ooooo Marta é melhor que Neymar" - Marta ist besser als Neymar. Eine Demütigung, die Altstar Zico locker toppte: Er sprach Neymar die Reife für das Kapitänsamt in der großen Seleção ab. Als Neymar die olympischen Pflicht-Interviews boykottierte, beschwerte sich der Sender Globo, der ein Vermögen für die Rechte zahlt, beim CBF. Und Neymar las erstmals Verrisse in der Heimatpresse.

Dabei verkörperte, bis zur erlösenden Nacht von Bahia, der gehemmte Held nur das Problem des nationalen Fußballs. Der war für Jahrzehnte Inbegriff allen brasilianischen Körperkults, er bildete das nationale Sportuniversum - bis es mit einem gigantischen Knall implodierte: Eins zu sieben. WM-Halbfinale 2014, gegen die deutsche Auswahl. Und wie das so ist, wenn ein Riesenstern stirbt, reißt er alles mit ins Verderben, was in seinem Gravitätsfeld liegt. In diesem Prozess des anhaltenden Niedergangs befindet sich die A-Auswahl immer noch, völlig verglüht ist die einst legendäre Verspieltheit; Mut und Übermut sind einer ängstlichen Trägheit gewichen. Und was nutzen Technik und Geschicklichkeit allein im modernen Strategiefußball, wenn die anarchische Wildheit fehlt, die natürliche Arroganz der alten Meister? Bei der Copa America 2015 in Chile scheiterte die Seleção im Viertelfinale, Neymar flog vom Platz. Bei der Copa 2016 in den USA war schon in der Gruppe Schluss, hinter Peru und Ecuador. Immerhin vor Haiti.

Jetzt gibt es Hoffnung. Nicht Neymar inspiriert ja diese Olympia-Auswahl, auch gegen Dänemark zogen ihn erst einmal die Youngster mit. Vorneweg die beiden Gabriels, um die sich schon halb Europa balgt. Für Gabigol vom FC Santos bietet Englands Meister Leicester City 27 Millionen Euro, ob das reicht, wird sehr vom Turnierverlauf abhängen; auch Barcelona, Paris, Juventus Turin und Inter Mailand sind interessiert. Und Gabriel Jésus, der bei Spitzenreiter Palmeiras spielt und die Torschützenliste der brasilianischen Meisterschaft anführt, ist schon unter der Haube. Zwar hatte er eine Klausel im Vertrag, die ihm laut Heimatpresse den Ausstieg zu Manchester United, Barcelona, Real Madrid, Paris SG und auch zum FC Bayern für ökonomische 24 Millionen Euro garantiert haben soll. Den Zuschlag sicherte sich ein anderer, der sich dem Spieler geräuschlos und direkt genähert hatte: Pep Guardiola. Der Dressman der Kickergilde kann eben auch anders. Am Jahresende, wenn Brasiliens Meisterschaft entschieden ist, stößt Gabriel Jésus zu Manchester City.

Zuvor darf er bei den Spielen zeigen, was er dort gelernt hat, wo Olympias Wege niemals hinführen. Aufgewachsen in der Favela Jardim Peri in São Paulo, hat er barfuß auf Beton klassische Fähigkeiten entwickelt: explosiv, ideenreich, mutig. Es folgte die Schule der Várzea, wie São Paulos brutal harte Amateurligen heißen. "Die versuchen, dir das Bein zu brechen", musste Gabriel Jésus erkennen, abgeschreckt hat es ihn nicht: "Ich spiele am liebsten drei, vier Mal am Tag. Bis die Muskeln verkrampfen." Die passende Diagnose stellt er selbst: "Ich glaube, ich bin besessen."

Wenn ihn die Presse nun als neuen Neymar feiert, erhebt ein prominenter Globo-TV-Mitarbeiter Einspruch. "Ich bin sein Fan. Wenn ich ihn sehe, sehe ich mich, als ich jünger war," sagt der große Ronaldo.

Trainer Micale übrigens bekam nicht nur Hilfe von Kollege Tite. Auch Felipe Scolari beriet ihn per Telefon - der einst große Felipão, der das 1:7-Trauma zu verantworten hat. Trotzdem sah der brasilianische Patient in Salvador recht gut erholt aus.

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