Fußball:Der EM-Titel wäre Frankreich zu gönnen

EURO 2016 - Quarter final France vs Iceland

Jubeln die Blauen auch im Halbfinale? Olivier Giroud (links) und Antoine Griezmann treffen jetzt auf Deutschland.

(Foto: dpa)

Die Europameisterschaft könnte für das krisengeschüttelte Land zu einem Akt der Befreiung geraten. Es geht im Spiel gegen Deutschland um mehr als Fußball.

Kommentar von Christian Wernicke

Plötzlich keimt Hoffnung, wuchert Zuversicht. Frankreich, diese zuletzt an Leib und Seele so waidwunde Nation, gewinnt jäh das Vertrauen in sich selbst zurück. Oder wenigstens den Glauben an die Blauen: Les Bleus, wie sie ihre Nationalmannschaft nennen (der Ausdruck Équipe Tricolore ist eine deutsche Obsession, ähnlich wie die Nachrede von der Grande Nation). Seit dem Kantersieg von Pogba, Payet und Griezmann über die wackere Sympathietruppe aus Island wallt Euphorie auf: "Diesmal glauben wir dran!", titelt das Boulevardblatt Le Parisien. Um auf Seite zwei zu verkünden, man habe ab sofort "nicht mal mehr Angst vor den Deutschen!"

Vor vier Wochen noch wären solch helle Töne undenkbar gewesen. Da wähnten sich acht von zehn Franzosen dem Niedergang geweiht, wirtschaftlich wie politisch. Das Land ächzt unter hohen Schulden und zehn Prozent Arbeitslosigkeit, nur quälend langsam gelingen ein paar halb gare Reformen. Die gesamte politische Elite - Präsident, Premier, Opposition - steht unter dem Generalverdacht: chronische Totalversager.

Ein Sieg über Deutschland wäre ein Akt der Befreiung

In einer Umfrage zum Selbstgefühl der Völker zeigten sich die Nachfahren der Gallier zuletzt so verdrießlich, dass sie unter 55 Nationen auf dem letzten Platz landeten. Ausgerechnet Frankreich, das in der Marseillaise doch den "Kindern des Vaterlands" Ruhm und Sieg verheißt, schien zur patrie du pessimisme zu verkommen, zur Heimstatt der Schwarzmalerei. Vorm Anstoß zum ersten Spiel kroch die Angst vor neuem Terror hoch. Und weil zwei Spieler maghrebinischer Herkunft nicht nominiert wurden, sahen sich Trainer und Fußballverband obendrein Rassismus-Vorwürfen ausgesetzt.

Was Wunder also, dass vor vier Wochen nicht mal jeder zweite Franzose (48 Prozent) Sympathie für die eigene Mannschaft verspürte - und nicht mal jeder Zehnte den Blauen den Titelgewinn zutraute.

Und nun: All die Zweifel, all der Trübsal verflogen? François Hollande, dieser Präsident von ausgesprochen trauriger Gestalt, mag bereits darauf spekulieren, dass ein EM-Sieg sein Volk ähnlich beseelt wie anno 1998, als die "Black-Blanc-Beurs" - die Multi-Kulti-Kicker aus Schwarzen, Weißen und Nordafrikanern - Weltmeister wurde. Das würde die karge Hoffnung des Fans im Élysée auf eine Wiederwahl 2017 ein wenig nähren.

Toni Schumacher, bis heute der "hässliche Deutsche"

Nur, so weit ist es nicht. Denn erstens handelt es sich bei Freude und Stolz, der da in Stadien und vorm Fernseher aufbricht, um einen strikt konditionierten Patriotismus. Nur Erfolg verspricht Erlösung. Im Falle einer Niederlage wäre das neue Wir-Gefühl sofort ruiniert - man hätte es doch schon vorher gewusst. Zweitens erwarten die Franzosen noch zweimal 90 (oder gar 120) Spielminuten. Und drittens lauern nun die Deutschen, ausgerechnet.

Les Allemands! Seit mehr als einem halben Jahrhundert - exakt seit 1958 - hat Frankreich bei keiner WM oder EM mehr gegen Deutschland gewonnen. Das Trauma ähnelt jenem Fluch, den die Deutschen soeben mit ihrem ersten Turniersieg gegen Italien überwunden haben. Adler besiegt Hahn, so ging es bekanntlich auch 1982 aus. Der deutsche Sieg im Halbfinale von Sevilla war schlimm, schlimmer ist immer noch die Erinnerung an das brutale Foul des deutschen Torwarts. Toni Schumacher verkörpert bis heute den "hässlichen Deutschen". Nach ihm, nicht nach Hitler, fragen französische Fans dieser Tage ihre Bekannten vom anderen Rheinufer.

Der Triumph wäre den Nachbarn zu gönnen

Selbstverständlich geht es nun um mehr als um Fußball. Frankreich spürt seine wirtschaftliche Schwäche. Und es muss neidvoll zusehen, wie das gemeinsame Europa immer deutscher wird. Angela Merkel ringt Respekt ab. Aber es wurmt (nicht nur) die Franzosen, wie die Kanzlerin seit Jahr und Tag den Kontinent wirtschaftspolitisch züchtigt und nun - mit Willkommenskultur und EU-Quoten für Flüchtlinge - obendrein auch noch moralisch zur Oberlehrerin avanciert. Mal selbstquälerisch, mal fast lustvoll kultivieren viele Franzosen ihre Minderwertigkeitskomplexe. Als sei "drüben" alles besser: die Autos schneller, die Spülmaschine leiser, die Politiker schlauer - und die Fußballer brillanter.

Ein Sieg über Deutschland wäre für Frankreich weit mehr als ein gewonnenes Spiel. Es wäre ein Akt der Befreiung. Nein, die Franzosen wollen nichts geschenkt haben. Und ja, beim Fußball hört die Freundschaft auf, auch die deutsch-französische. Nur für den Fall, dass der viermalige Weltmeister diesmal nicht seinen vierten kontinentalen Titel ergattern kann: Der Triumph wäre den Nachbarn zu gönnen. Ein innerlich erstarktes Frankreich hilft Europa, auch den Deutschen. Und was die wichtigste Nebensache betrifft: Schön spielen tun sie eh.

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