Süddeutsche Zeitung

Turnier ohne Zuschauer:Nicht mehr so, wie Fußball sein soll

Lesezeit: 3 min

Profis können auch ohne Fans spielen - doch so verliert dieser Sport seinen Zauber. Das schadet dem Fußball noch mehr als Megagehälter und fiese Funktionäre.

Kommentar von Philipp Selldorf

Karl-Heinz Rummenigge hat sich zwar nicht erlesen ausgedrückt, aber er hat es immerhin nett gemeint, als er prophezeite, das laufende Turnier der Champions League werde beim Publikum "einschlagen wie eine Bombe". Der Vorstandsvorsitzende des FC Bayern wollte dem Veranstalter, der europäischen Fußball-Union Uefa, ein Kompliment dafür machen, dass sie sich diesen packenden Modus für ihren kostbarsten Wettbewerb ausgedacht hat: Die Endrunde mit acht Teilnehmern an einem ausgesuchten Ort zu konzentrieren und im Knock-out-Verfahren auszutragen, das verspricht maximale dramaturgische Zuspitzung. Zumal der Ort Lissabon heißt und zu den schönsten Orten der Welt gehört. Bei dem Versuch, den Rang der außerordentlichen Veranstaltung einzuordnen, lag Rummenigge sprachlich allerdings wieder knapp daneben, obwohl er erneut das Richtige meinte. Dieses Turnier sei "wie eine europäische Klub-WM" - eine Weltmeisterschaft unter Europäern.

In Wahrheit braucht man da nicht so kleinlich zu sein, die europäischen Wettspiele sind tatsächlich Weltspiele, auf allen Kontinenten sind die Fernsehsender zugeschaltet. Die Frage ist jedoch nicht nur, wie viele Menschen in aller Welt zuschauen, sondern wie diese Menschen zuschauen werden. Sitzen sie so gebannt vor dem Bildschirm wie im Vorjahr, als in vier denkwürdigen Begegnungen das Halbfinale in Europas wichtigster und einträglichster Klubkonkurrenz ausgefochten wurde? Oder schauen sie nur nebenbei ein bisschen zu, wenn, etwa an diesem Freitagabend, Premium-Marken wie Bayern München und FC Barcelona aufeinandertreffen?

Der Unterschied bemisst sich weniger am sportlichen Angebot, das auch diesmal erstklassig ist, als an den Umständen. 2019 lagen sich in den voll besetzten Stadien in Amsterdam und Liverpool die Zuschauer singend, lachend, jubelnd, weinend in den Armen. 2020 gibt es keine Zuschauer im Stadion, bloß ein paar maskierte Funktionäre. Es ist immer noch Fußball, der in Lissabon aufgeführt wird, aber es ist nicht mehr der Fußball, wie er war und wie er sein soll. Ob Rummenigges Bombe wirklich zündet?

Ohne Zuschauer wirkt der Profi-Fußball steril und technokratisch

Das Uefa-Turnier mag eine brillante Erfindung sein, vor allem ist es eine Notlösung zur Rettung des lukrativen Wettbewerbs, der wegen der Corona-Krise im März abgebrochen werden musste. Nebenbei führt es nun auf hohem Niveau beispielhaft vor, woran der professionelle Sport derzeit am meisten krankt. Nicht am hinlänglich beklagten spätkapitalistischen Sittenverfall und den sieben Todsünden, sondern am medizinischen Ausnahmezustand.

Ohne Publikum fehlen dem Fußball nicht nur Kulisse und Geräusche, sondern auch Herz und Seele und Zauberkraft. Ohne die emotionale Resonanz von den Rängen wirkt er steril und technokratisch, entwurzelt und anonym. Der Turnierplatz Lissabon ist ein Ort voller romantischer Fußballtradition, doch hinter verschlossenen Stadiontoren ist davon nichts mehr zu spüren. Der Hintergrund, den die Stadt bildet, dringt nicht herein, die Spiele könnten auch auf dem Mond oder einer einsamen Insel stattfinden; eine spezifische Atmosphäre, Lokalkolorit, den Geist des Ortes - das alles gibt es nicht im Geisterspielbetrieb. Mangels Drama und emotionalem Überbau erkennt man auf einmal: Auch Fußball ist nur ein Sport.

Zuletzt sind Europas Spitzenligen zunehmend kritisch betrachtet und moralisch hinterfragt worden. Die Hyperinflation an der Transferbörse, die absurden Gagenzahlungen an die Profis, die Ungleichheit zwischen wenigen Spitzenklubs und dem Rest der Mitspieler, die Unfähigkeit der Uefa, den ungesunden Trends mittels Financial Fairplay entgegenzusteuern: All dies schadet dem Sport, seinem Ansehen, seiner Akzeptanz. Aber der Schaden durch das coronabedingte Ersatzprogramm könnte noch tiefer ins kollektive Bewusstsein dringen.

Ein Gefühl des "Na und?" stellt sich ein

In letzter Konsequenz geht es um den Kern des Ganzen: den Erhalt der Faszination des Fußballs als end- und grenzenloser Seifenoper und seine Relevanz als Massenereignis. Nicht nur die mageren TV-Quoten bezeugen schleichenden Bedeutungsverlust. Das Publikum nimmt das Geschehen weiter zur Kenntnis, aber die Verbindung geht verloren, ein Gefühl des "Na und?" stellt sich ein. Der Geisterbetrieb ist nicht nur geschäftsschädigend, weil Einnahmen ausbleiben, sondern er gefährdet auch die Basis, weil die Fans in Abwesenheit ihre Leidenschaft verlieren könnten. Gleichgültigkeit ist viel schlimmer als der Ärger über finanziellen Wucher oder fiese Funktionäre bei der Fifa.

Es war daher eine sehr schlechte Nachricht für die Bundesliga, als die Regierung diese Woche wissen ließ, vorerst nicht mal darüber nachzudenken, ob und wann sie ein paar Zuschauer im Stadion erlauben wird. Diese Angst gibt es längst in den Klubs und bei der Liga: Wird Fußball nach Corona wieder so wichtig sein wie früher? Kommen die Leute zurück? Oder haben sie an der neuen Freizeit ohne Fußball Gefallen gefunden? Niemand weiß, wie dynamisch dieser Prozess wird. Wie all die anderen Betroffenen in der Kultur-, Sport- und Veranstaltungsbranche muss auch der Fußball damit klarkommen, dass ein Ende der Pandemie, Restriktionen und Ungewissheit nicht in Sicht ist.

Selbstredend können die Fußballer auch ohne aufgeregtes Volk auf den Tribünen ihrer Arbeit nachgehen. Doch der Glaube, dass sich der Sport selbst genug sein kann und Fernsehbilder schon ausreichen werden, um das Geschäft aufrechtzuerhalten, war ein Irrglaube. Vielleicht führt also die Depression, die von den leeren Arenen ausgeht, zu lehrreichen Einsichten. Die Klubs dürften jetzt gelernt haben, dass ihr Publikum im Stadion sogar noch wichtiger ist als die Fernsehzuschauer. Man stelle sich bloß das Nervenkitzel-Turnier in Lissabon mit Fans aus allen Lagern vor. Es wäre garantiert bombastisch.

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Quelle:
SZ vom 14.08.2020
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