FC Liverpool in der Champions League:Eingedreht wie kubanische Zigarren

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119 Ballkontakte, 113 Pässe: Gegen Villarreal war Liverpools Thiago ein wahrer Spielmacher. (Foto: Jon Super/AP)

Der Spanier Thiago Alcantara hat das Spiel des FC Liverpool verändert - hin zu mehr Kontrolle und weniger Chaos. Nach dem 2:0 gegen Villarreal im Champions-League-Halbfinale übertreffen sich die Experten in ihren Lobeshymnen.

Von Sven Haist, Liverpool

Die größte Ehre wurde Thiago Alcantara am Mittwochabend im Fernsehstudio zuteil. In seltener Einigkeit stimmte die beachtli­che Experten­riege an englischen Alt-Internationalen in den Chor ein, wonach es eine Au­genweide sei ("a joy to wat­ch"), den Mittelfeldspieler des FC Liverpool beim Fußballspielen zu verfolgen. Im Wortsinn sang Jamie Carragher, ehemaliger Abwehrrecke des Klubs, mit seinem Kollegen Micah Richards bei CBS das lauteste Lob­lied auf Thiago - einen Sprechgesang, den Fans einst als Anerkennung für Thiago gedichtet hatten. Zur Melodie des Kari­bik-Hits "Cuba" tanzten und trällerten beide vor laufenden Kameras: "Thiago, Thiago Alcantara". Fast noch besser als der stimmungsvolle Refrain, der einem schon nach dem ersten Hören im Ohr bleibt, ist die dazugehörende fünfzeilige Laudatio. Darin heißt es im Hinblick auf Thiagos fußballerische Begabung treffend, er würde seine Gegenspie­ler eindrehen "wie kubanische Zigarren" ("He'll roll you like a Cuban").

Obwohl Thiago bei Liverpools für den Villarreal Club de Fútbol deprimierend eindeutigem 2:0 im Ha­lbfi­nal-Hinspiel der Champions League im heimischen Anfield weder ein Tor noch ein Assist ge­lang, bekam kein anderer Spieler später hymnischere Elogen ab. Das dürfte vornehmlich daran gelegen haben, dass es sich während des Spiels so anfühlte, als sei ausschließlich Thiago am Ball gewesen. Mit 119 Ballkontakten und 113 Pässen, wovon 96,3 Prozent bei seinen Teamkollegen ankamen, kreierte Thiago eine Partie, die ihn des Begriffs "Spielmacher" würdig machte.

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Allerdings, schrieb die New York Times in ihrer Hommage an Thiago, bestehe das Problem dieser Statistiken darin, dass sie nichts darüber aussagten, was seine Zuspiele auf dem Platz bewirkt hätten. Die Zahlen könnten weder aufzeigen, wie "unbeeindruckt er selbst von intensivstem Druck" noch wie "makellos" seine Technik sei. Mit seiner Ballkontrolle hält Thiago nicht nur das Spiel der Mannschaft im Fluss, er leitet auch noch selbst die Angriffe ein.

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Im Internet gibt es einen vierminütigen Zusammenschnitt seiner Szenen gegen Villarreal, der einen Eindruck verschafft, wie geschickt sich Thiago übers Spielfeld bewegt. Immer anspielbar für Teamkameraden - und vor allem stets in einer offenen Körperstellung, die es ihm erlaubt, das Spiel in mehrere Richtungen fortsetzen zu können. Dabei wirken seine Ballberührungen mit Außen- und Innenspann und speziell mit der Fußsohle sanft wie das Streicheln eines Kaninchens. Als Resultat sahen sich Villarreals Spieler am eigenen Strafraum nahezu festgepinnt. Nicht ein einziges Mal schossen die Spanier aufs gegnerische Tor, wie auch, nachdem sie fast gar nicht über die Mittellinie kamen.

Abgefälscht zum Eigentor: Nachdem Pervis Estupinan eine Flanke des Liverpooler Kapitäns Jordan Henderson noch berührt, hat Villarreals Torwart Gerónimo Rulli keine Chance. (Foto: Ãngel Rivero/Marca/Imago)

Liverpools Dominanz verleitete einen früh zu dem oftmals trügerischen Verdacht, es sei nur eine Frage von ein paar Spielminuten, bis die optisch überlegene Mannschaft ihre Treffer erzielen wür­de. In diesem Fall bestätigte sich jedoch die Annahme: Per Spielverlagerung leitete Thiago das 1:0 in der 53. Minute ein, bei dem Villarreals Pervis Estupinan eine Flanke des Liverpooler Kapitäns Jordan Henderson zum Eigentor abfälschte. Nur 133 Sekunden später ermöglichte Thiago durch eine Körpertäuschung den Freiraum für Mohamed Salah, sich am Strafraum zu drehen und einen Steckpass auf Sturmpartner Sa­dio Mané anzubringen, der problemlos zum 2:0 einschob (55.).

In der Entstehung der beiden Tore, führte Thiago hinterher aus, habe mehr "das Aufspüren von Lücken" als "die Geduld" eine Rolle gespielt. Das Sp­ortmaga­zin The Athletic titelte, die Angelegenheit für Liverpool sei "so komfortabel" gewesen, wie es in ei­nem Königsklassen-Halbfinale nur sein könne. Noch mehr als der rechnerische Vorsprung lässt der Qualitätsunterschied vor dem Rückspiel in Villarreal am Dienstag kaum eine andere Prognose zu, als dass Dauertrainer Jürgen Klopp (seit Oktober 2015 im Amt) die Reds zum dritten Mal in fünf Saisons ins Finale führen dürfte.

Vorübergehend wurden Zweifel an Thiago laut, was Klopp sehr verärgert hat

Anders als in seiner Anfangszeit definiert sich Liverpool inzwischen mehr über Kontrolle als über Chaos. Der Wandel setzte mit der Verpflichtung des Ballgenies Thiago, 31, im Sommer 2020 ein. Zum Schnäppchenpreis von circa 25 Millionen Euro musste ihn der FC Bayern damals nach Liverpool ziehen lassen, weil sonst mit Vertragsende ein Jahr später ein ablösefreier Wechsel gedroht hätte. Während sein Abschied die Bayern weit gravierender traf, als die gerade debattierten Abwehrprobleme vermuten lassen (und der Klub seitdem ohne ihn nicht mehr übers Viertelfinale der Königsklasse hinauskam), konnte sich Liverpool dank Thiago zu einem Universalteam entwickeln. Im Dreier-Mittelfeld mit Abräumer Fabinho und Antreiber Henderson nahm er die halblinke Position des 2021 zu Paris St. Germain weitergezogenen Georginio Wijnaldum ein.

In seiner ersten Saison auf der Insel bremste Thiago zunächst eine schwere Knieverletzung aus. In der Rückrunde schien er dann wie das gesamte Team unter der riesigen Verletzungsmisere des Klubs zu leiden, die es unmöglich machte, sich einzuspielen. Das dürfte der Grund gewesen sein, warum zeitweise Zweifel an der Zusammenarbeit zwischen Thiago und Liverpool laut wurden. Als Klopp kürzlich gefragt wurde, ob Thiago überhaupt nach Liverpool passe, konnte er seinen Ärger nicht zurückhalten. "Gott sei Dank", lederte Klopp, träfen diese Kritiker "keine Entscheidungen" im Fußball. Die Debatte hat sich inzwischen erledigt.

Stattdessen überschlagen sich nun die Kommentatoren mit Lobeshymnen. In der Vorbereitung auf sein Interview am BT-Mikrofon bat Owen Hargreaves, einer der kompetentesten Ex-Spieler auf der Insel, sogar darum, auch eine Einschätzung zu Thiago abgeben zu dürfen. Er sagte: "Thiago war der beste Mann auf dem Platz. Mit Fabinho und Henderson übt er totale Kontrolle aus." Nur zu singen fing Hargreaves nicht an.

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