Lissabon ist ein Ort, der Sehnsüchte weckt. Doch für eine ganze Generation an Spielern (und Anhängern) des FC Barcelona wird die portugiesische Hauptstadt allmählich zu einem Synonym quälender Albträume. Vor gut einem Jahr gingen dort für Barça im Viertelfinale der Champions League gegen den FC Bayern die Lichter aus; und wie zum Hohn trug sich die legendäre 2:8-Pleite an einem Ort zu, der Estádio da Luz heißt: Stadion des Lichts.
Am Mittwoch kehrte Barça an ebendiesen Ort zurück - und erlebte schon wieder einen Blackout. Barça verlor bei Benfica Lissabon zwar "nur" mit 0:3, wie vor zwei Wochen beim Auftaktspiel gegen den FC Bayern. Doch Barça hinterließ die gleiche Leere wie 2020. "Wir sind in einer kritischen Lage", sagte Kapitän Sergio Busquets. Das gilt vor allem für Ronald Koeman, dessen Verweildauer auf der Trainerbank des FC Barcelona sich wohl endgültig dem Ende zuneigt.
Noch in der Nacht versuchten die Spin-Doktoren des Klubs, Zeit zu gewinnen. Sie stachen an die Medien durch, dass Präsident Joan Laporta nicht aus der Hitze der Emotion heraus eine Entscheidung treffen wolle - wobei diese im Grundsatz wohl getroffen sein dürfte. Nach der Rückkehr aus Lissabon soll es aber noch um drei Uhr morgens einen Krisengipfel des engsten Führungszirkels Barcelonas gegeben haben. Mit dem Ergebnis, dass Koeman eine Gnadenfrist bis vorerst Samstag gegeben werde. Als Favorit auf die Nachfolge galt am Donnerstag die italienische Legende Andrea Pirlo. Der ehedem geniale Mittelfeldspieler ist zurzeit ungebunden. Denn als Coach von Juventus Turin ist er gerade krachend gescheitert. Pirlo soll in ersten Gesprächen mit den Machthabern Barcelonas Interesse signalisiert haben.
Klar ist: Mit Koeman kann Barcelona unmöglich weitermachen, die Urteile über Koeman sind letztinstanzlich. "Koeman ist nicht der einzige Schuldige an dieser Situation. Natürlich nicht. Aber er darf nicht eine Minute länger Trainer bleiben", kommentierte Sport, eine Art Zentralorgan der Barça-Familie: "Laporta muss noch heute handeln. Wenn er denn vermeiden möchte, dass sich Barcelona noch lächerlicher macht."
Bei Barcelona sind wieder einmal eklatante Fehler zu begutachten gewesen
In der Tat ist Barcelonas Lage ausweglos. In der Liga laufen die Katalanen Gefahr, nicht nur im Rennen um den Titel, sondern auch in jenem um die Champions-League-Plätze früh abgehängt zu werden. Und in der Königsklasse schafften es nur zwölf von 140 Mannschaften, nach zwei Auftaktniederlagen noch die K.-o.-Runde zu erreichen. Koeman behauptete gleichwohl, dass Barcelona noch alle Optionen auf ein Weiterkommen habe. "Wenn wir unsere beiden Spiele gegen Dynamo Kiew gewinnen, und der FC Bayern gegen Benfica das gleiche Niveau zeigt wie gegen uns, sehe ich uns schon im Achtelfinale", sagte der Niederländer. "So kompliziert ist das jetzt auch nicht...", fügte er hinzu. Was im Lichte der Leistung seines Teams doch größeres Staunen hervorrief.
Denn niemand hatte auch nur den Ansatz eines Zweifels, dass die Pleite beim Tabellenführer der portugiesischen Liga hochverdient gewesen war. Bei Barcelona waren wieder einmal eklatante Fehler zu begutachten. Erst recht bei der frühen Führung durch Darwin Núñez, der nach einem feinen Pass von Julian Weigl zum 1:0 traf (3. Minute) und später per Handelfmeter den Endstand herstellte (79.). Zwischendrin sorgte Rafa Silva (69.) für das 2:0. Zu allem Überfluss verlor Barcelona noch seinen völlig indisponierten Innenverteidiger Eric García durch einen Platzverweis. "Die Champions League ist eine Nummer zu groß für Barcelona", konstatierte die Zeitung La Vanguardia.
Die Abfindung Koemans wird auf zwölf Millionen Euro taxiert
Koeman freilich beteuerte, dass die Niederlage vor allem der mangelnden Effektivität geschuldet gewesen sei. Und: Er bat darum, endlich damit aufzuhören, sein Barcelona mit den glorreichen Teams der gar nicht mal so fernen Vergangenheit zu vergleichen: "Diese Mannschaft hat nichts mehr mit dem Team von vor ein paar Jahren zu tun", sagte Koeman. Er versicherte, dass er den Rückhalt der Spieler spüre. Doch in Lissabon wechselte er den Mannschaftsrat aus: Gerard Piqué wurde nach nur gut einer halben Stunde ausgetauscht (weil der kurz vor einem Platzverweis stand), Kapitän Busquets ging nach einer guten Stunde und Sergi Roberto wurde fast schon demonstrativ auf die Bank gesetzt, als im Grunde nur noch Sekunden zu spielen waren. Ob er sich mit den Spielern wirklich so gut versteht, muss also dahingestellt bleiben. Klar ist: Das Verhältnis zu den Chefs ist zerrüttet.
Selbst Koeman kaschiert das nicht mehr. Als er in Lissabon gefragt wurde, ob das Präsidium ihm vertraue, sagte Koeman: "Ich weiß es nicht. Die Wahrheit ist, ich weiß es nicht." Und in den Medien ist seit Tagen die Rede, dass die größte Hürde für Koemans Ablösung die drohende Abfindung von 12 Millionen Euro sei. Denn Barcelona ist milliardenschwer verschuldet. Das wiederum verkompliziert die Rekrutierung von renommierten Trainern wie Belgiens Nationaltrainer Roberto Martínez und vor allem von Klublegende Xavi Hernández, derzeit in Katar tätig. Pirlo hingegen ist günstig zu haben.
Das passt auch deshalb, weil Spaniens Ligaverband LFP am Mittwoch verlauten ließ, dass Barcelonas Gehaltsausgaben angesichts der voraussichtlichen Einnahmen der laufenden Saison den Betrag von rund 97 Millionen nicht übersteigen dürfen. Im Vorjahr hatte Barcelona noch bei 347 Millionen Euro gelegen, mit der neuen Summe ist man in Spaniens Liga auf Rang sieben gelistet, fern vom Branchenführer Real Madrid, der seinen Spielraum von 739 Millionen Euro nicht annähernd ausgeschöpft habe. So oder so: Die Zeiten bei Barcelona werden unruhig bleiben. Mindestens.