Süddeutsche Zeitung

Bergamo-Stürmer Ilicic:"Wir umarmen ihn"

Josip Ilicic blieb die gesamte Zeit des Corona-Lockdowns in Bergamo und hat offenbar Spuren in der Seele davon getragen. Nun muss Bergamo in der Champions-League-Finalrunde wohl auf seinen Torjäger verzichten.

Von Oliver Meiler, Rom

In Bergamo nennen sie ihn la nonna, Großmutter, und das ist zunächst verwunderlich für einen Fußballspieler im Zenit seines Könnens, der sich an guten Tagen zu Weltformat hochschwingt: mit schnellen Dribblings und kraftvollen Sturmläufen. Josip Ilicic, 32 Jahre alt, ein stiller und zurückhaltender Slowene mit bosnischen Wurzeln, hat die Angewohnheit, sich immer über alles Sorgen zu machen und sich die Sorgen aller anzuhören. Wie eine Großmutter eben, finden seine Kollegen von Atalanta Bergamo. Der Spitzname wirkte bisher wie ein ironischer Scherz. Nun aber macht es den Anschein, dass diese Melancholie in seinen Augen einen "dunklen Schmerz" spiegelt, wie es La Repubblica schreibt.

Zum Abschluss der Meisterschaft der Serie A, die dem kleinen und großartigen Atalanta von Trainer Gian Piero Gasperini am Ende hinter Meister Juventus und Inter Mailand den dritten Rang eintrug, und vor der Verlegung des Betriebs nach Lissabon, wo die Bergamasken doch tatsächlich beim Finalturnier der letzten acht in der Champions League mitwirken werden, reden sie in Italien vor allem über die rätselhafte Geschichte von Josip Ilicic. Er ist nicht verletzt, nicht im klassischen Sinn. Der Verein sagt nicht viel, um ihn zu schützen, nur: "Wir stehen ihm nahe." - "Wir umarmen ihn." Man hat ihm erlaubt, nach Hause zu fahren, nach Slowenien, zu den Seinen, für unbestimmte Zeit.

Bis Corona war er der Held Atalantas gewesen, der wichtigste Akteur im ruhmreichsten Moment der Vereinsgeschichte. In der letzten Begegnung der Königsklasse vor dem Lockdown, im Rückspiel des Achtelfinals beim FC Valencia, hatte der Slowene alle vier Tore der Norditaliener erzielt. Vier Treffer in einem Auswärtsspiel, das war vor ihm noch nicht vielen gelungen. Dann machte der Fußball dicht, und mit ihm bald alles öffentliche Leben. Ilicic blieb während der ganzen Zeit des Lockdowns in Bergamo, andere ausländische Stars flogen sofort in ihre Heimat und kehrten erst zurück, als das Training wieder aufgenommen werden durfte. Die Gazzetta dello Sport schreibt, Ilicic habe in dieser Zeit einen "psychologischen Kurzschluss" erlebt, mit jedem Tag sei er tiefer gefallen. Keine Stadt in Italien wurde stärker getroffen von der Seuche als Bergamo und seine Umgebung, Hunderte starben. Die Bilder der 70 Militärtransporter, die in der Nacht des 18. März kamen, um die Leichen abzuholen, gingen um die Welt.

Vielleicht, so mutmaßt der Corriere della Sera, trugen diese Bilder zu "Ilicics Drama" bei. Die Folgen eines Flashbacks? Josip Ilicic kam einst im bosnischen Prijedor zur Welt. Sein Vater starb, da war er erst sieben Monate alt. 1992, Josip war damals vier, gab es in Prijedor ein schreckliches Massaker, serbische Milizen mordeten Hunderte Kroaten und Bosnier. Die Familie floh nach Slowenien, die Erinnerungen an den Krieg reisten mit.

Mit 22 kam Ilicic nach Italien. Drei Jahre verbrachte er in Palermo, dann vier in Florenz bei der Fiorentina. 2017 wechselte er nach Bergamo und wurde da zu einer Symbolfigur des "Wunders von Atalanta". Interviews gibt er noch immer nur selten, und wenn er mal redet, dann verfällt er nie in die Selbstglorifizierung, im Gegenteil. Einmal erzählte er, wie sehr ihn der plötzliche Herztod des italienischen Nationalverteidigers Davide Astori mitgenommen habe, mit dem er in Florenz gespielt hatte. Ihm nahm man die Erschütterung ab.

Die Fans zeigen ihre Solidarität

Nach dem Lockdown war Ilicic dünner als davor, die Kondition aber stimmte, er trainierte auch mit derselben Intensität wie seine Mitspieler. Doch die Flamme war weg. Trainer Gasperini bot den Stürmer nach dem Restart immer auf, obschon der für seine Verhältnisse verloren auf dem Platz stand: gegen Lazio, Udinese, Cagliari, Sampdoria. Dann ging es gegen Juventus Turin, und Gasperini insistierte erneut, stellte Ilicic in die Startformation, in der Hoffnung, das Spitzenspiel könnte ihn befreien. Vergeblich.

In Lissabon ist für den 12. August das Viertelfinale der Champions League gegen Paris St. Germain angesetzt. Ohne Ilicic, den Stürmer, der sie dorthin befördert hat? Die Fans von Atalanta zeigen ihre Solidarität, indem sie ihre Profilbilder in den sozialen Netzwerken und auf Whatsapp durch Fotos von Ilicic ersetzen. Er soll sie spüren können. "Ilicic", sagte Gasperini jüngst schon reichlich resigniert, "ist für uns, was Dybala für Juve ist, Immobile für Lazio und Lukaku für Inter." Und als man ihn fragte, wie es nun weitergehe, sagte der Trainer: "Wir schauen von Tag zu Tag, doch dass er mit uns nach Lissabon fährt, ist sehr, sehr unwahrscheinlich." Die ganze Glorie ohne einen der ganz Gloriosen.

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SZ vom 04.08.2020/ska
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