Süddeutsche Zeitung

Krise des VfB Stuttgart:Vieles ist gleich - und alles anders

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Vor einem Jahr siegte Stuttgart 5:1 in Dortmund und wurde für seinen Fußball gefeiert. Vor der Neuauflage des Duells zeigt sich, dass der Stuttgarter Weg nicht nur sehr mutig ist. Sondern auch extrem riskant.

Von Christof Kneer, Stuttgart/München

Vor einem knappen Jahr hat sich die Fußballrepublik zumindest für ein Wochenende in dieses Bild verliebt. Die Fußballrepublik außerhalb Dortmunds, wie man wohl dazu sagen muss, in Dortmund hätten sie an diesem Wochenende am liebsten das Internet gesperrt und den Verkauf von Zeitungen untersagt. Dieses Bild wollte dort ja niemand sehen: drei junge Stuttgarter Fußballer, die sich an der Seitenlinie zum Torjubel treffen und eine offenkundig verabredete Choreografie aufführen. Es sah fast schon rührend aus, wie Silas Wamangituka, Orel Mangala und Tanguy Coulibaly damals ihre imaginären Stifte zückten, um irgendetwas in imaginäre Bücher hinein zu kritzeln. Sie hätten damit zeigen wollen, dass sie in Stuttgart gerade eine gemeinsame Geschichte schreiben, erklärte Mangala später vor den Fernsehkameras.

Bei welchem Tor die drei ihre Pantomime präsentierten? Ach, das weiß man nicht mehr genau. Es sind so viele gefallen damals.

Mit 5:1 - ja: fünf zu eins - siegte der VfB damals beim BVB, es war die Zeit, als die Stuttgarter zum Katzenvideo der Bundesliga wurden: Ach, sind die süüüß! Jedes Wochenende lernte die Bundesliga einen neuen Namen zu buchstabieren, W-a-m-a-n-g-i-t-u-k-a, C-o-u-l-i-b-a-l-y, es gab den kleinen Klimowicz und den riesengroßen Kalajdzic. Und der Autor der prächtigen Geschichte - Sven M-i-s-l-i-n-t-a-t - durfte in den Fachfeuilletons nur das Schmeichelhafteste über sich lesen, etwa, dass er in Stuttgart gerade ein kleines Borussia Dortmund zusammenbaue. Das war auch schon wieder eine nette Pointe, weil Mislintat bekennender Herzensdortmunder ist und der Legende nach auch Lewandowski, Kagawa, Aubameyang und Dembélé entdeckt, wenn nicht gar erfunden hat.

Okay. Und jetzt Schnitt.

Elf Monate später reist der VfB nun wieder zum BVB, als Tabellenfünfzehnter, mit zehn Punkten nach elf Spielen. Beim VfB ist, verglichen mit damals, vieles gleich und alles anders. Silas Wamangituka ist immer noch da, aber auffällig wurde er im letzten halben Jahr nur durch eine Abenteuergeschichte um eine falsche Identität. Er heißt jetzt Silas Katompa Mvumpa, ist ein Jahr älter als gedacht und kehrt gerade aus einer achtmonatigen Pause nach Kreuzbandriss zurück. Mangala und Coulibaly sind auch noch da, aber Mangala hat drei Muskelverletzungen hinter sich, und Coulibaly ... nun ja, für ihn gilt, was auch für den kleinen Klimowicz gilt. Man weiß nicht genau, ob die sogenannten Toptalente gerade in einer jener Formvertiefungen stecken, die Toptalenten entwicklungshalber zustehen - oder ob man sie schlichtweg überschätzt hat. Draußen, aber auch drinnen im Verein.

Die Aufstellung des VfB ist vom ersten Spieltag an eine Art Zauberwürfel gewesen

Tatsächlich konnte niemand diese Spezialpandemie voraussehen, die den VfB seit Saisonbeginn erfasst hat. Schultern sprangen heraus (Kalajdzic), Schlüsselbeine gingen entzwei (Führich), es gab haufenweise lädierte Bänder (Mangala, Mavropanos, Kempf, wieder Führich) und gleich mehrere Coronafälle, unter anderem bei Stammtorwart Florian Müller und Abwehrchef Waldemar Anton. "Wenn wir wieder eine volle Kapelle haben, sehen wir auch wieder einen anderen VfB Stuttgart", sagt der Sportdirektor Mislintat und hat mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sehr recht damit.

Die Aufstellung des VfB ist vom ersten Spieltag an eine Art Zauberwürfel gewesen, eine Stammelf samt dazugehöriger Automatismen fand sich nie, und die dauerverletzten Kalajdzic und Silas waren in der Offensive auch deshalb nicht zu ersetzen, weil ihre neu verpflichteten Unterstützer Chris Führich und Omar Marmoush ebenfalls ständig vom Sport befreit werden mussten.

Im Klub hinterfragen sie die Anzahl der Muskelblessuren inzwischen durchaus, aber dass sie sich grundsätzlich auf dem rechten Weg befinden, davon gehen sie weiterhin aus. Von ihren neu gefundenen Idealen wollen sie sich nicht verabschieden, nur weil ein boshaftes Schicksal sämtliche in der Wissenschaft bekannten Sportverletzungen am armen VfB durchprobiert (Marmoush, übrigens, hat Probleme mit dem Syndesmoseband. Irgendein Schienbeinköpfchen würde noch fehlen/Hinweis ans Schicksal).

Es ist Mislintats möglicherweise ewiges Verdienst, dass er diesem ein Jahrzehnt lang wild herumschlingernden Traditionsverein ein paar beachtliche Leitplanken verpasst hat. Tatsächlich hat sich der VfB inzwischen sogar in Europa einen Namen gemacht, zumindest unter den Scouts der großen Klubs, die durchaus staunen: Was, der Beyaz spielt beim VfB? Der Faghir auch? Respekt! Und den Ahamada und den Mola haben die auch? Anmerkung für Nicht-Scouts: Bei den angesprochenen Spielern handelt es sich um einen 18-jährigen türkischen Spielmacher, einen 18-jährigen dänischen Stürmer, einen 19-jährigen französischen Mittelfeldspieler und einen 20-jährigen englischen Verteidiger. Sie alle werden unter die verheißungsvollsten Talente Europas auf ihrer Position gerechnet, Experten prophezeien ihnen eine große, und jetzt kommt's: Zukunft.

Es ist Mislintats Weg, und nach wie vor wird er in Stuttgarter Fankreisen fast kultisch verehrt dafür: Talente früh verpflichten, sie spielen und reifen lassen, und wenn sie dem VfB genügend geholfen und die Fans genügend begeistert haben, kann man sie für 30 Millionen an Tottenham oder nach Florenz verkaufen und mit diesem Geld fünf neue Toptalente holen. Nie war dieser Weg strahlender beleuchtet als beim 5:1 in Dortmund, aber nun, ein knappes Jahr später, wirkt die Verletzungsmisere wie ein Kontrastmittel.

Es ist jetzt nicht mehr zu übersehen: Dieser Weg ist nicht nur sehr mutig, er ist auch extrem riskant. Die Toptalente mögen eine beneidenswerte Zukunft besitzen, aber der VfB bräuchte gerade dringend etwas Gegenwart. Im Moment kann es sich der Klub nicht leisten, auf die ersten Entwicklungsschritte bei Beyaz und Faghir oder die zweiten Entwicklungsschritte bei Coulibaly oder Klimowicz zu warten. Stagnationen oder Fehleinschätzungen werden umgehend mit massivstem Abstiegskampf bestraft.

Es gebe keinen Grund, in der Winterpause neue Spieler zu holen, hat Sven Mislintat gerade gesagt. Er vertraut seinem Weg. Und immerhin weiß er ja sehr genau, dass es keine besseren Zugänge geben kann als Silas Katompa Mvumpa und Sasa Kalajdzic.

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