Womöglich hat sich Gilbert Keith Chesterton ja doch geirrt. Der britische Autor, gestorben 1936, erklärte einmal das Urwesen des Menschen, indem er eine Analogie mit Gegenständen des Alltags kreierte: mit dem Spazierstock und dem Regenschirm. Letzterer sei nützlich und notwendig, beim Spazierstock handele es sich hingegen um ein nettes, aber in Wahrheit komplett überflüssiges Accessoire. Aber was lasse man ständig irgendwo liegen? Richtig, den Regenschirm.
Der Mensch hänge nun mal am Überflüssigen, glaubte Chesterton, und deswegen müsse der Sozialismus zwangsläufig scheitern. Das war so weit zwar nicht ganz falsch, als völlig richtig hat sich diese Herleitung aber auch nicht erwiesen. Denn circa ein Jahrhundert später hat der Fußball den 1. FC Union Berlin hervorgebracht, einen Klub, der sich nicht für seinen spielerischen Minimalismus schämt und mit einem fast schon sozialistischen Kollektivgeist überzeugt.

Hansi Flick im Interview:"So viel Druck darf es nie mehr geben"
Der Bundestrainer spricht über die Schlüsse, die er aus der WM in Katar gezogen hat, beklagt die politischen Erwartungen, mit denen sich die Mannschaft konfrontiert sah - und räumt eigene Fehler ein.
Am Sonntag ist den Köpenickern nun mal wieder ein aufs Allernötigste beschränkter Regenschirm-Auftritt gelungen. Der Gegner VfL Wolfsburg lag am Ende zwar in allen relevanten Statistiken (Ballbesitz, Zweikämpfe, Torchancen ...) vorne und machte einen deutlich zu elanvollen Eindruck, als dass ein Vergleich mit einem Spazier- oder gar mit einem Krückstock angemessen gewesen wäre - doch das hinderte Union nicht daran, genauso oft ins Tor zu treffen wie die Werkself.
Das Ergebnis von 1:1, sagte der Union-Coach Urs Fischer, sei letztlich vor allem auf die Kampfmoral seiner Mannschaft und das "nötige Spielglück" zurückzuführen gewesen. Und dann referierte er weitere Fakten, die aus seinem Mund wie metergroße Meilensteine klangen: Union hatte in seinen drei Erstliga-Jahren weder ein Tor in Wolfsburg erzielt noch jemals einen Punkt mitgenommen; dass am Sonntag nun beides auf einmal gelang, war für Fischer offenbar von ähnlicher Bedeutung wie ein Academy Award für Filmregisseure. Sein Kollege Niko Kovac jedenfalls konnte sich nicht recht erklären, wie dieser Präzedenzfall zustande kam. "Wir hätten einen Sieg verdient gehabt", sagte der Kroate und ergänzte dann wahrheitsgemäß: "Aber wir sind im Fußballsport. Und da zählen nun mal die Ergebnisse."
Union kann vieles einen Ticken besser als der Gegner
Es ist bereits viel über die Fabelsaison der Köpenicker debattiert worden, in der sie es ins Achtelfinale der Europa League und aktuell auf den vierten Platz in der Liga geschafft haben. Das Spiel in Wolfsburg zeigte eines der Erfolgsgeheimnisse jetzt noch einmal wie unter einem Brennglas: Die Unioner können nicht alles, aber was sie machen, können sie oft einen Ticken besser als der Gegner.
Die Kovac-Elf war fußballerisch zweieinhalb Klassen überlegen und hätte allein durch den Stürmer Omar Marmoush mindestens dreieinhalb Tore schießen können, doch mit jeder vergebenen Torchance wurde sie auch eine Spur nervöser und aktionistischer. Union hingegen behielt seinen Rhythmus permanent bei, sowohl vor dem Führungstreffer durch Josip Juranovic (72. Minute, Elfmeter), als auch nach dem Wolfsburger Ausgleich durch Patrick Wimmer (84.). Zusammen mit der "Uns-muss-man-erst-mal-schlagen"-Haltung der Köpenicker Mannschaft ergibt das eine Mischung, die auch überlegenen Gegnern einiges an Respekt abverlangt.
"Wir können uns mit den Besten messen", lautete das Fazit des VfL-Trainers Kovac, dessen vom niedersächsischen Regenwetter durchnässte Haare wie ein klarer Beleg für Chesterstons Analogie aussahen: Auch im Jahr 2023 ist so ein Regenschirm ein absolut nützliches und notwendiges Utensil geblieben.