Wer das Wunder von Köpenick richtig einordnen will, musste sich vor diesem Samstag nur die eigenartige Konstellation ansehen. Nein, nicht allein die Tabelle, sie spiegelt ja nur wider, was sich in Berlin entwickelt hat. Zweiter Platz nach achtzehn Spieltagen, eine Chance auf die Tabellenführung, mindestens für einen Tag. Aber vor dieser Partie, und das ist die für einen Tabellenzweiten so besondere Konstellation, sah niemand die Berliner als selbstverständlichen Favoriten an. Nicht weil der Gegner besonders spielstark wäre, im Gegenteil. Mainz war Elfter, weit weg von der Spitze, zuletzt aufgefallen mit einem robusten Auftreten, "sehr kampfbetont mit vielen Zweikämpfen", wie Union-Trainer Urs Fischer sagte. Gegen solche Teams hat Union in dieser Saison oft am schlechtesten ausgesehen.
Fischers Warnung war mehr als eine Pose. Er weiß, sein Team muss in jedem Spiel mit großer Disziplin seine Linie halten, um Erfolg zu haben, und da ist piepegal, was die Tabelle sagt. Das Köpenicker Rezept, Woche für Woche neu angerührt vom Schweizer Trainer, liegt in der Verbindung von demonstrativer Demut und äußerst selbstbewusster Angriffslust. Leicht sieht das nie aus, auch nicht an diesem eisigen Februartag beim 2:1 (1:0)-Erfolg gegen Mainz. Zufall ist es aber nicht.
Das Spiel von Union Berlin folgt einem klaren Muster. Sehr ruhig, geradezu gelassen kontrollierten die Köpenicker in den ersten Minuten den Ball, als hätten sie alle Zeit der Bundesliga-Welt, um vielleicht ein Tor zu erzielen, wenn der Gegner eine Lücke offenbaren sollte. Oder auch nicht. Abwarten, Kommen lassen, egal, Hauptsache Kontrolle. Das ging dann so: Abwehrchef Robin Knoche spielt zu Diogo Leite, der zu Rani Khedira, der zu Knoche. Viel Sicherheit war da zu spüren nach den Siegen der vergangenen Wochen. Und die Gewissheit, erst mal kein Risiko gehen zu müssen, irgendwann würde sich die Möglichkeit bieten, von Seelenruhe auf höchste Geschwindigkeit zu wechseln und nach vorn auszubrechen - das Prinzip Union.
Die Berliner führen wieder einmal die hohe Kunst vor, in einem ereignisarmen Spiel vorn zu liegen
So wie in der 32. Minute, fast zum ersten Mal an diesem Samstag, aus der Mitte kam der Ball nach rechts hinaus zum Berliner Paul Seguin, der konnte frei flanken. In der Mitte verpassten einige. Am Ende grätschte Stürmer Kevin Behrens den Ball über die Linie. Schön? Nein. Ein mit direktem Spiel und Entschlossenheit erzwungenes Tor, klug herausgespielt. Es hatte etliche Zweikämpfe und Fehlpässe gegeben. Spielerisch war nicht viel nicht passiert bis dahin, aber die Mainzer lagen dennoch zurück. Zur Halbzeit waren gerade mal vier Torschüsse für Union gezählt worden, zwei für Mainz. Die Berliner hatten wieder einmal die hohe Kunst vorgeführt, in einem ereignisarmen Spiel vorn zu liegen.
In der zweiten Hälfte setzte sich das Muster fort, nur wurde das Spiel noch robuster, weil die Mainzer mehr investierten. Es gab "viele Zweikämpfe, viele Fouls", sagte Trainer Fischer. Und viele hohe Bälle, was nicht eben von einer Neigung zu feinem Spielaufbau bei einer der beiden Mannschaften zeugte. In der 78. Minute wurden die Mainzer für ihren Aufwand auf jene eigentümliche Art belohnt, die das Betrachten eines Fußballspiels im Stadion inzwischen auch ein wenig trüben kann. Im Strafraum plumpste der Ball an den Arm des Berliners. Der VAR meldete sich, viele hatten das wohl sonst nicht gesehen, Schiedsrichter Florian Badstübner gab Strafstoß, obwohl niemand über ein absichtliches Handspiel klagen konnte. Marcus Ingvartsen war's egal, er verwandelte kühl.
Sein Coach Bo Svensson fand, dass die Mainzer auch am Ende ein Unentschieden verdient gehabt hätten im "erwartet engen, zweikampfbetonten Spiel mit wenig Chancen auf beiden Seiten." Und der Berliner Kollege Urs Fischer stimmte nach Spielschluss sogar zu: "Wir hätten wahrscheinlich nichts sagen können, wäre das Spiel unentschieden ausgegangen." Nur setzte seine Mannschaft im Anschluss an den Ausgleich nach, attackierte plötzlich wieder weiter vorn und konnte in der 84. Minute in Führung gehen durch eine Kombination frisch eingewechselter Spieler, die Jordan Siebatcheu abschloss. So etwas gelingt halt leichter, wenn eine Mannschaft seit Wochen erfolgreich ist.
Glücksgefühle nach einer eigentlich missratenen zweiten Halbzeit: Jordan Siebatcheu (rechts) erzielt das Siegtor gegen Mainz 05.
(Foto: Annegret Hilse /Reuters)Union habe "Lust, an jedem Spieltag ans Limit zu gehen", erklärte Fischer diesen Erfolg seiner Mannschaft. "Sie wendet auf, unermüdlich." Das spreche für ihre Moral, für ihre Mentalität. "Das Spielglück bekommst du nicht geschenkt." Die Berliner mussten dann noch einmal ran, so ist eben die Konstellation, robust verteidigen. Frederik Rönnow parierte direkt nach dem 2:1 einen fein platzierten Schuss von Karim Onisiwo. Und in sechs Minuten Nachspielzeit wehrten sich die Berliner mit Befreiungsschlägen gegen die Angriffe der Mainzer, sie hielten in den Zweikämpfen dagegen. Eng war es, wie fast immer im Stadion an der alten Försterei. Die Zuschauer spürten das. Sie sangen "Unsere Liebe, unsere Mannschaft, unser Stolz, unser Verein, Union Berlin", immer lauter, als wollten sie mit ihren Chören den Schlusspfiff vom Schiedsrichter erzwingen.
Und als es dann so weit war, wechselte der Gesang in ein ganz schnelles Stakkato: "Spitzenreiter, Spitzenreiter, hey, hey". Sie liegen vorn, für einen Tag mindestens, und werden, so geht das Prinzip Eisern Union Berlin, auch beim nächsten Mal nicht Favorit sein. Geht ja ganz gut ohne.