Fußball-Bundesliga:Dortmund lässt Tuchel leiden

FC Ingolstadt 04 - Borussia Dortmund

Zum Weggucken: Trainer Thomas Tuchel ärgert sich am Spielfeldrand über seinen BVB.

(Foto: dpa)

Der BVB verliert den Kontakt zur Spitze: Beim wilden 3:3 in Ingolstadt wird klar, wie viel die Dortmunder Hochbegabtentruppe noch lernen muss.

Von Christof Kneer, Ingolstadt

Es gibt Trainer, die rasen wie irr aufs Feld, wenn ihre Mannschaft in der Nachspielzeit den Ausgleich erzielt. Ungebremst rennen sie auf die Jubelpyramide zu und werfen sich obenauf, und irgendwann gehen sie unter im Gedrücke und Geschubse, und man verliert sie aus den Augen. Es gibt diese Trainer - und es gibt Thomas Tuchel.

Der Dortmunder Christian Pulisic, 18, hatte in Ingolstadt gerade das 3:3 erzielt, nach einer Flanke von Felix Passlack, ebenfalls 18 Jahre alt, die reguläre Spielzeit war gerade abgelaufen. Schon ein Grund zur Freude könnte das sein, vor allem bei einer Mannschaft, die bereits 0:2 und 1:3 zurücklag und natürlich auch für einen Trainer, der beide Spieler eingewechselt und damit alles richtig gemacht hatte. Thomas Tuchel rannte dann auch aufs Feld, aber er sah nicht aus, als würde er sich freuen. Er fuchtelte und verzog das Gesicht, er gestikulierte und schimpfte, und wer dieses Spiel bis zu diesem Zeitpunkt verfolgt hatte, für den waren diese Gesten nicht schwer zu verstehen: Tuchel schickte seine Spieler wieder in die eigene Hälfte, weiter geht's, Jungs, sollte das heißen, reißt euch nochmal zusammen, und macht nicht wieder so einen Quatsch wie nach unserem ersten Tor. Wobei: "Quatsch" sagte Tuchel vermutlich nicht, es war mit hoher Wahrscheinlichkeit ein anderes Wort, das man aber sowieso nicht schreiben könnte.

"Ein lachendes und ein weinendes Auge" stellte Ingolstadts Trainer Markus Kauczinski später bei sich fest, und das dürfte so ziemlich für alle Menschen gegolten haben, die in irgendeiner Form an diesem wilden, am Ende überbordenden 3:3 beteiligt waren.

Beide Teams beklagen eine zu geringe Ausbeute

Die Ingolstädter lachten, weil sie Borussia Dortmund am Rande einer Niederlage hatten und weil sie so leidenschaftlich spielten und kämpften, dass für einen Moment keiner mehr über den Tabellen- (17.) und Punktestand (zwei) nachdachte. Und die Ingolstädter weinten, weil ihnen in der Nachspielzeit ein Sieg davon flutschte, den sie, wenn man's genau nimmt, halt doch sehr gut hätten gebrauchen können. Im zweiten Moment haben sie halt schon realisiert, dass sie im Moment nur zwei Punkte haben, womit man in dieser Liga am achten Spieltag nur den HSV hinter sich lässt.

Und bei Borussia Dortmund gestaltete sich das Wein/Lach-Verhalten genau entgegengesetzt: Das Tor in der Schlussminute war natürlich schon irgendwie besser, als verloren zu haben. Aber eigentlich war ein Unentschieden auch viel zu wenig gegen eine individuell dramatisch unterlegene Mannschaft - zumal die Dortmunder nun auf eine Mini-Bilanz blicken, die nicht zu ihren Ambitionen passt: In den letzten drei Ligaspielen haben sie gerade mal zwei Punkte geholt.

Dortmund macht die Doppelbelastung zu schaffen

In der ersten Hälfte sei seine Mannschaft "nicht bereit gewesen, Bundesliga zu spielen", sagte Thomas Tuchel, "in keinem Bereich, weder technisch noch taktisch, weder von der Spannung noch von der Körpersprache her". Tuchel ist schon ein paar Jahre dabei, er weiß natürlich, dass ihm Übelwollende so einen Satz zu einer herrlichen Schlagzeile verdrehen könnten (etwa so: "Tuchel kritisiert Einstellung! BVB-Trainer geht auf seine Spieler los!"). Deshalb war es ihm wichtig zu betonen, "dass ich das ganz wertfrei sage, ich bin weit davon entfernt, einen Vorwurf zu formulieren".

Tuchels Borussia kann ihr funkelndes Talent in keiner Sekunde verleugnen, aber man sieht dieser gnadenlos jungen Mannschaft auch immer wieder an, wie gnadenlos jung sie ist - und eben auch, wie viele prägende Spieler sie in der vergangenen Transferperiode verloren hat (Hummels, Gündogan, Mkhitaryan) und wie viele von den Verbliebenen aktuell verletzt oder gesperrt fehlen (Reus, Schürrle, Sokratis, Schmelzer, Bender, Mor).

"Schlecht verteidigt"

Tuchels Umbruch-Mannschaft muss noch lernen, wie es ist, Bundesliga und Champions League und drei Tage später wieder Bundesliga zu spielen, es sei etwas anderes, "so etwas zu wissen, als es zu erleben", meinte Tuchel. Zum Lernprozess zählen auch solche Spiele wie in Ingolstadt - bei einem sehr entschlossenen Gegner, der seine Stärken sehr entschlossen einzusetzen weiß. Nach zwei fast identischen Standardsituationen lag der BVB früh (6., 29.) mit 0:2 zurück, beide Male schickte der Österreicher Markus Suttner schräge Freistöße in den Dortmunder Luftraum, und beide Male waren die Dortmunder körperlich vorhanden, aber geistig nicht in der Lage, ihre Körper auch einzusetzen. "Schlecht verteidigt" habe man diese Standards, sagte Verteidiger Matthias Ginter später im Branchenjargon, dabei habe man "natürlich gewusst, dass die Ingolstädter mit langen Bällen und Standards arbeiten".

Das Ingolstädter 3:1 habe ihn aber "noch mehr geärgert", meinte Tuchel, es dürfte jener Treffer gewesen sein, der am Ende einen Dortmunder Sieg verhinderte. Gerade hatte Pierre-Emerick Aubameyang Dortmunds deutlich konzentrierteren Auftritt in der zweiten Hälfte zum 1:2-Anschlusstor (59.) genutzt, als dem FC Ingolstadt direkt vom Anspiel weg das 3:1 durch Lezcano gelang. Als hätte es das 1:2 gar nicht gegeben, musste der BVB schon wieder einem Zwei-Tore-Rückstand hinterher rennen, weshalb es am Ende nach den Toren von Adrian Ramos (69.) und eben Pulisic (90.+1) nur noch zum Ausgleich reichte - trotz eines immer wilderen Powerplays, das in der Nachspielzeit der Nachspielzeit fast noch das Siegtor durch Aubameyang gebracht hätte.

Die Ausschläge seien eben noch groß bei seiner jungen Mannschaft, sagte Tuchel, es war ein wahrer, aber im Grunde überflüssiger Satz. Bilder sagen mehr als Worte: Alle denkbaren Ausschläge hatte seine Mannschaft gerade bündig in 90 Minuten gepackt.

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