Fußball-Bundesliga:Die Null muss gehen

Offensiv denkende Trainer, kreative Kicker, Flatterbälle, und verwundbare Abwehrreihen - warum die Bundesliga Tore, Tore, Tore schießt.

Moritz Kielbassa und Christof Kneer

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Martin Jol

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Bei der Fußball-Bundesliga handelt es sich neuerdings um eine "Torfabrik" im "Torrausch" (dpa). 3,06 Tore pro Spiel sind im ersten Saisondrittel gefallen, so viele wie seit 21 Jahren nicht - sogar mehr als in den traditionellen Offensivligen England (2,72) und Spanien (2,76) - und als in Italien (2,28) sowieso. Denn: "Fußball ist auch eine Frage der Mentalität", weiß Mark van Bommel, Kapitän des FC Bayern (aktuelles Torverhältnis 27:18). Hat sich die Liga also eine neue Mentalität zugelegt? Sind die Stürmer plötzlich besser, die Verteidiger schlechter? Ralf Rangnick, Trainer von 1899 Hoffenheim (Torverhältnis: 31:17), sagt: "Tore zu schießen ist schwerer als zu verhindern, mehr Tore sind kein Qualitätsverlust." Die Analyse eines Rauschzustands.

Neue Trainer

Seit Sommer gönnt sich die Liga mehr Trainer mit offensivem Naturell. "Das Stadion ist ein Theater", sagt Martin Jol, neuer Trainer des HSV. Sein Vorgänger ließ die Null stehen, Jol ließ sie gehen. Auch Ralf Rangnick, Jürgen Klinsmann, Bruno Labbadia oder Jürgen Klopp bieten dem Publikum mit ihrem Spaßansatz mehr Spektakel als die Sicherheitsphilosophen Stevens, Hitzfeld, Slomka. Das Standardergebnis heißt nicht mehr 1:0, 1:1, 2:1. Schick sind jetzt: 4:2, 3:3, 5:4. Bisher waren solche Ergebnisse ein Alleinstellungsmerkmal des ewigen Bremers Thomas Schaaf (Torverhältnis: 28:23).

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Beckenbauer

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Mein Freund, der Ball

Moderne Ligatrainer denken in langfristigen Projekten. Ihre Grundidee ist: Dominant spielen statt destruktiv, mit dem ersten Blick nach vorn statt quer und zurück; Mut zum Risiko; aggressiv den Ball und Gegner jagen statt hinten Räume abdichten und auf ein Zufalls-1:0 hoffen. Hochtouriger Angriffsfußball Marke Leverkusen, Hoffenheim (beide fast immer), FC Bayern (erkennbar ansatzweise) oder HSV, Dortmund, Wolfsburg (alle manchmal) erfrischt die Liga. Noch 2006 hatte sich der Trend des perfektionierten Ergebnisfußballs vollendet - mit Italien als Weltmeister und Verteidigern als Heldenfiguren. Jahrelang hatten Trainer an immer ausgefeilteren Strategien des Torverhinderns geforscht. DFB-Chefstratege Urs Siegenthaler beklagte: "Handlungslösungen für die Offensive fehlen."

Die Generation Rangnick aber begreift den Ball nun wieder als Freund, nicht als Feind. "Früher", sagt Hoffenheims Trainer, "habe ich zu 70 Prozent das Spiel gegen den Ball trainiert, heute sind es 75 Prozent eigener Ballbesitz." Das Offensivspiel soll nicht mehr nur auf Gottvertrauen, abgefälschte Schüsse und zufällige geniale Momente aufgebaut sein - sondern auf automatisierte Spielzüge, auf Geplantes, auf Schritt für Schritt Erlerntes.

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Fred Rutten

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Der Star ist die Handschrift

Auf deutschen Trainingsplätzen werden jetzt Spielfelder abgesteckt, die aussehen wie Bananen oder Feuerwehrschläuche, um im künstlich verengten Raum schnelles Steil- oder Flügelspiel mit wenigen Kontakten zu erzwingen. "Klinsmann fordert im Training ständig den vertikalen Ball", berichtet Philipp Lahm, FC Bayern. Viele Trainer wissen aber: Mit nur einer Strategie lässt sich im Zeitalter der Videospionage keine Abwehr überrumpeln. Jede Handschrift muss variable Lösungen anbieten: mehrere Systeme (siehe Klinsmann, Hoffenheims neues 4-3-3) und idealerweise Rhythmuswechsel: Eine kluge Mischung aus one-touch und Dribblings, aus Turbokontern und dem guten, alten Ballbesitz, den Europameister Spanien mit rasenden Kurzpasszwergen wie Xavi, Iniesta im Sommer wieder hoffähig machte. Aus der Vielfalt der Mittel entwickelt jeder Trainer seine individuelle Note. Den Schalker Kraftprotzen etwa versucht der neue Trainer Fred Rutten ein ruhigeres Passspiel aus der Abwehr beizubringen (als Gegenentwurf zu Slomkas Hochweit-Schule). Letztlich funktioniert moderner Fußball wie Straßenverkehr: Gute Mannschaften nutzen grüne Wellen mit Vollgas (Konter) - oder kennen, falls Stau herrscht, Schleichwege (sicheres Kombinieren, bis die Lücke auftaucht).

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Der Star für die Handschrift

Doch jedes Konzept hängt ab: von individueller Klasse. Verschiedene Spielertypen machen sich um die Torflut verdient: Lückenöffner wie Ribéry, Marin, Obasi, deren Tempodribblings eine Abwehrstatik sprengen. Und der moderne Stürmer, der alles kann: Technisch versiert am Passspiel teilnehmen, auf weiten Laufwegen navigieren, aber auch kraftvoll aus jeder Lage aufs Tor schießen. Helmes, Gomez, Ibisevic, Novakovic, Klose, Toni, Ba - so heißen die Spaßmacher der Liga. In allen Stadien sieht man wieder mehr kreative Kicker als vor Jahren - auch dank der verbesserten Talentausbildung im Land. Die Jugendakademien der Liga züchten nicht mehr nur Ergebnisfußballmaschinen, sondern fördern seit einiger Zeit wieder das freche Eins-gegen-Eins-Spiel. So kreieren sie gute Techniker, "die auch in Bedrängnis und auf engem Raum nicht zu Notlösungen greifen", sagt Siegenthaler.

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Teambesprechung

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Die Doppelrolle der Verteidiger

Im zeitgenössischen Fußball werden Alleskönner verlangt. Auch die Verteidiger beteiligen sich an Vorwärtsmarsch und Spieleröffnung - das begünstigt die Torquote. Vorne und hinten! Prompte Steilpässe nach Ballgewinn (im Extremfall sogar vom Torwart) sind längst gezielte Torvorlagen, Flankenläufe von Außenverteidigern sowieso. Aber: Abwehrleute, die nach vorne rennen, fehlen bei Ballverlust hinten. Und wer auf mutiges Mittelfeldpressing setzt, muss seine Abwehrkette nach vorne schieben - und ist leichter auszukontern (siehe: Neutrainer Klinsmann, Alttrainer Schaaf). Mehr Tore sind immer auch ein Produkt brüchiger Abwehrreihen - überhaupt scheint das Defensivverhalten bei immer mehr Bundesligisten der wunde Punkt zu sein (wie im internationalen Vergleich zu besichtigen ist).

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Roberto Ribéry

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Jung und fit

Tempofußball setzt Kraft voraus, und besonders fit, frisch und wild ist: die Jugend. Auffällig junge Teams (Leverkusen, Hoffenheim) sind Hauptverursacher der Torschwemme. Zudem stählen seit dem Gummibandsommer 2006 überall Athletiktrainer die Körper. Manchmal hilft nun sogar ein 35-Jähriger mit einem 70-Meter-Sprint beim Torvorlegen (Zé Roberto beim Münchner 2:1 in Schalke). Für solch türoffnende Spurts hat Rangnick das Wort "Bewegungsvorsprung" erfunden. Er arbeitet in Hoffenheim auch deshalb gerne mit Talenten, weil er junge Spieler verbessern und nach seinen Vorstellungen formen kann. So kreiert das System seine Stars (nicht umgekehrt) - wie Ibisevic, 13 Tore, der in Bielefeld oder Augsburg womöglich keinem auffiele.

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Schiri Markus Merk

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Sonstiges

Die Torflut fördern ferner, 1.: von Flatterbällen begünstigte Fernschüsse (Salihovic, Pander, Huszti, Özil); 2.verlängerte Nettospielzeiten (mehr Ballbuben, rätselhafte 90+x-Minuten); 3.Schiedsrichter, die Verteidiger durch strenge Vielpfeiferei von fiesen Fouls und Trikotzupfen abhalten. Möglich, dass 1.bis 3. sogar entscheidend sind für 3,06 Tore im Schnitt. Aber weniger schön zu erklären.

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Andreas Müller

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Kulturpessimisten

So schön die Torflut ist: Verherrlicht werden sollte sie nicht. Denn am Ende aller Weisheit zählt das Ergebnis, nicht das Erlebnis. "Die Basis muss eine kompakte Defensive sein", warnt bereits Leverkusens Trainer Labbadia (zuletzt 3:3 nach 3:0 in Karlsruhe). Auch Klinsmann zog aus ertragsarmen Spektakelwochen erste Lehren, ebenso Martin Jol, genervt von regelmäßigen 0:2-Rückständen. Und Schalke-Manager Andreas Müller glaubt: "Hurrafußball gewinnt keine Titel." P.S. Auf jeden Trend folgt erfahrungsgemäß schon bald ein Gegentrend. Lesen Sie dazu die SZ vom 15.11.2009 mit dem mutmaßlichen Titel "Die Null steht wieder".

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