Fußball:Bayerns Netz ist gerissen

Die Testspiel-Niederlagen zeigen: Der FC Bayern hat kurz vor Saisonbeginn sein System verloren. Es macht offenbar Spaß, diese Mannschaft zu überfallen.

Kommentar von Klaus Hoeltzenbein

Alle, die sich für groß halten, es mal waren oder es mal werden wollen, sind zuletzt über den Planeten getourt. Doch keine dieser Mannschaften, die sich neuerdings als Global Player verstehen, ist dabei derart aus Fassung und Form geraten wie der FC Bayern: 0:4 in Shenzhen gegen den AC Mailand, 0:2 in Shanghai gegen Inter Mailand, ein 0:3 nach Rückkehr in die eigene Hütte gegen den FC Liverpool, bei dem das Publikum nicht nur wegen des über München tobenden Gewitters aus der Arena floh. Die Werbung spricht von einem PR-Desaster.

Alle Demontagen ähnelten sich in ihrem Verlauf: Der Gegner ließ denen, die da im Rot des FC Bayern spielten, ein bisschen mehr Ballbesitz - und konterte schnellstmöglich und entschlossen, sobald sich ein Fehler ins System einschlich. In welches System? Der FC Bayern hat sein altes System verloren. Und er hat kein neues. Er hat keine Rückversicherung gegen alle Irritationen. Jedenfalls keine, die diese Mannschaft über ihre Probleme trägt. Und so macht es gerade offenbar viel Spaß, diese Bayern zu überfallen.

Das alte System, das den Rekordmeister trug, ist untergegangen, spätestens mit dem Übertritt des Spaniers Xabi Alonso und des Weltmeisters Philipp Lahm in den Ruhestand. Beide waren Knotenpunkte jener Spinnennetz-Strategie, die von 2013 bis 2016 unter dem manischen Tüftler Pep Guardiola entwickelt wurde, in der sich die Bayern wohlfühlten, doch der Gegner nicht. Denn der kam in den besseren, den erinnerungswürdigen Spielen nicht an den Ball, ihm wurde während der unendlichen Ballstafetten der Münchner die Luft und damit die Lust geraubt - er zappelte hilflos wie die Fliege im Netz.

Mit dieser Ballbesitz-Strategie wurden zwar nicht alle Spiele gewonnen, jedenfalls nicht jene gegen die Klubs aus Guardiolas Heimat, aus Barcelona und Madrid, aber diese Strategie gab dem Team einen Charakter und eine verblüffende Selbstsicherheit. Natürlich wurden auch mal Testspiele verloren, wenn Guardiola es mit der Experimentierfreude übertrieb - doch nie in Serie so hoch wie heute.

Ancelotti gilt eher als Animateur der Fußballprominenz denn als innovativer Systementwickler

Vorige Saison schon wurde das Netz fadenscheinig, nun ist es gerissen, gegen Liverpool gab es nicht einmal eine klare Torchance. Die Mannschaft hat Personal, womöglich Talent, aber sie hat kein Korsett, das die Ideen bündelt. Es fehlt ein taktischer Leitstrahl, an dem sich jene, die die frei gewordenen Lahm-/Alonso-Planstellen besetzen sollen - der Portugiese Renato Sanches, 19, der Franzose Corentin Tolisso, 22, oder weiter vorne der Kolumbianer James Rodriguez, 26 - verbindlich orientieren können. Teuer genug war dieses Trio, auf dem Transfermarkt wird der FC Bayern kaum noch reagieren wollen, er hat seine Optionen bereits gezogen.

Das neue Netz wird in seiner zweiten Münchner Spielzeit Carlo Ancelotti knüpfen müssen. Der Italiener hat Champions-League-Trophäen in seiner Vitrine, gilt aber eher als Animateur der Fußballprominenz denn als innovativer Systementwickler. Nun ist er aber ausgerechnet in dieser Rolle gefordert. Wird es doch zumindest international nicht reichen, auf die Rückkehr des auch nicht ewig jungen Dauerdribblers Arjen Robben, 33, zu hoffen, damit dieser noch einmal die Offensive vitalisiere. Ebenso wenig kann jene Ellbogen-Theorie eine moderne Rezeptur fürs Spiel sein, die Uli Hoeneß am Montag bei der Vorstellung des neuen Sportchefs Salihamidzic präsentierte. Der habe einst seine Gegner gepiesackt, und als ihm der berühmte Roberto Carlos aus Madrid daraufhin die Nase brach, habe Hasan einfach weitergespielt - so wolle er, teilte der Klubchef mit, seine Bayern wieder sehen.

Heute gewinnt man mit solchen Heldenmythen vielleicht einen Zweikampf, doch gegen die dynamisierten Kombinationsmaschinen aus Spanien, aber auch wieder aus England und Italien, kaum ein großes Spiel. Hoeneß hört sich mit seiner Ellbogen-Theorie an wie einer, der das Analoge im Fußball beschwört, mit dem die Bayern einst - und letztmals im Jahr 2013 - durchaus Weltmarkführer waren. Aktuell laufen sie jedoch Gefahr, die Digitalisierung ihres Sports zu verpassen.

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