Fußball: 1860 München:Die gleiche Krankheit

Den Aufstieg im Herzen, die Abstiegsränge vor Augen: 1860 München ist sich wieder selbst ein Rätsel und sucht leidend nach Wegen aus der Krise. Die ist mittlerweile Dauerzustand.

Gerald Kleffmann

Was der Wetzel Adalbert jetzt denken würde, Gott hab ihn selig? Oder der Heckl Karl? Ernst sehen sie aus, die ehemaligen Vereinsbosse, jedenfalls auf den Portraitfotos, die im früheren Präsidentenzimmer des TSV 1860 München an der Wand hängen. Möglicherweise geht ihnen an diesem Montagmorgen ja durch den Kopf: schon wieder ein Krisentreffen!

Fußball: 1860 München: Gequältes Lächeln: 1860-Trainer Ewald Lienen kann momentan nicht zufrieden sein.

Gequältes Lächeln: 1860-Trainer Ewald Lienen kann momentan nicht zufrieden sein.

(Foto: Foto: getty)

Schon wieder das emsige Suchen nach neuen Wahrheiten, die den Verein endlich, endlich, endlich auf die richtige Spur bringen sollen! Schon wieder. Wie können zwei so harmlos klingende Worte so gemein sein? Denn der Löwe vom Oktober 2009 ist exakt schon wieder dort, wo er tausend Mal war in den vergangenen Jahren, seitdem man nur noch ein schnöder Fußballzweitligist ist, seit 2004 also. Und? Wetzel und Heckl? Nein, sie schweigen, natürlich, nicht mal ein winziges Hilfezeichen senden sie aus dem Jenseits, und so sitzt also Miroslav Stevic hier, alleine, perfekt gekleidet wie immer, und müht sich, den Journalisten halbwegs plausibel und offen zu antworten.

Das hätte sich Stevic, der ehemalige Sechziger-Profi, der mit vielen Ambitionen angetreten ist als Sportdirektor, der eine Multikultimannschaft zusammengestellt hat und hoch und heilig Besserung versprach, auch nicht träumen lassen. Dass er nach dem achten Spieltag zur Krisenrunde einladen und Sätze sagen muss wie: "Der Tabellenstand entspricht nicht dem, was wir uns vorgenommen haben." 15. sind die Löwen, nach dem 1:3 beim FC St.Pauli am Sonntag sind sie richtig abgestürzt.

Punktemäßig ist der Abstand zwar nicht allzu weit bis ins zumindest beruhigendere Mittelfeld. "Es ist zu früh, um zu sagen, wir müssen die Saison retten", sagt Stevic. Und dennoch. 15.? Dahinter kommen die Abstiegsränge samt Relegationsplatz. Das klingt in der Welt der Löwen, die 2010 150 Jahre alt werden und aufsteigen wollen, mindestens dramatisch. Wie auch der Fakt, dass die Spitze zehn Punkte weg ist und Trainer Ewald Lienen, der Dauertüftler, spielerisch und taktisch so ziemlich alles ausgereizt hat.

Fast jeder Spieler hat inzwischen mal pausiert, fast jeder wurde rumrochiert, zuletzt erhielt gar Kapitän Benjamin Lauth eine Verschnaufpause. Lauth, der Liebling der Fans, saß auf der Bank, Torben Hoffmann, der Liebling von Torben Hoffmann, war Kapitän, das muss man sich mal vorstellen. Einen größeren Typenwechsel gibt es kaum in einer Elf. Aber wenn es der Sache hilft?

Genau das ist der Punkt: Es hilft nicht. Der Erfolg stellt sich nicht ein. Er lässt sich selbst mit Transfertricks, positiver Presse, Fantreue und Marketingparolen nicht auf die Schnelle erzwingen. Die jüngste Werbekampagne von Sechzig lautet: "Schreien! Bis der Arzt kommt!" Mancher Fan schreit tatsächlich. Aus Verzweiflung. Aus Frust. Schon wieder.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Warum Trainer Ewald Lienen sich in Frage stellt...

"1860 leidet am Sündenbock-Syndrom"

Das für die bei 1860 Verantwortlichen Schlimmste ist aber, dass sie viel schneller als erwartet in eine Spirale geraten sind, die kein bisschen anders ist als jene, in die ihre Vorgänger geraten waren. "1860 leidet am Sündenbock-Syndrom", hat der frühere Löwen-Psychologe Alfred Böswald einmal gesagt. Vor dieser Saison, als der freche Geschäftsführer Manfred Stoffers und der gewieft anmutende Stevic kamen, dachten viele, dieses Syndrom, dieses Selbstzerfleischen, dieses Aufmürben, vor allem: dieses Verliererdasein, all das sei vorbei.

Niemand denkt mehr so, nicht mal im Verein. Stevic sagt: "Das ist das Syndrom aus der Vergangenheit. Wir haben neue Leute, aber die gleiche Krankheit." Und die heißt Erfolglosigkeit in der Liga. "Wir müssen dieses Rätsel lösen", sagt Stevic weiter. Und wie? Wo ansetzen? Sie wissen es offenbar nicht. Das merkt man daran, dass jetzt wieder Sätze mit dem Verb müssen Hochkonjunktur haben.

Wir müssen eine Serie starten. Wir müssen kurzfristig Erfolg haben. Wir müssen darüber nachdenken, doch einen neuen Spieler zu holen (nachdem man sich gegen Didi Hamann und Ebi Smolarek entschied). Wir müssen darüber nachdenken, die Doppelsechs aufzulösen und vielleicht mit einer Raute im Mittelfeld spielen. Schon wieder also: Vorsätze, wohin man hört.

Und plötzlich steht fast alles zur Disposition, was kürzlich begrüßt und gefeiert wurde, als die Saison mit einem Ligasieg und einem Pokalsieg losging. "Ich muss mich jetzt in Frage stellen - wir alle", sagt Lienen. Wann sei der Punkt erreicht, an dem er hinschmeiße, wurde Stevic gefragt. Ob er zu Lienen stehe. Ob das Team ins Trainingslager fahre. Die Antworten waren belanglos. Aber dass danach gefragt wurde, ist die Besorgnis erregende Momentaufnahme.

Stevic und Lienen leiden, das fällt auf. Zähneknirschend müssen sie einräumen, dass sich vieles nicht vorteilhaft entwickelt hat. Die Jungen wie Tarik Camdal sind zu jung, um Verantwortung zu übernehmen. Die Älteren wie Mathieu Beda sind zu schlecht, um Verantwortung zu übernehmen. Die, die das könnten, Florin Lovin oder Daniel Bierofka, sind verletzt. Lauth ist wie Torwart Gabor Kiraly gut, aber zu still.

So kam es, dass Hoffmann, mit dem 1860 2004 abstieg, schon wieder oben angelangt ist in der Hierarchie. Kann eine Mannschaft, kann 1860 in diesem Zustand aufsteigen? Offenbar nicht, denn so plötzlich wie diese nächste Krise auftauchte, so plötzlich wird ein neues Ziel ausgerufen: nur ein Spiel, das nächste verdammte Spiel gewinnen, egal wie. Am 17. Oktober ist Duisburg der Gegner. Es ist fast ein kleines Endspiel. Im schlimmsten Fall verstärkt sich das Syndrom. Keine schöne Aussicht.

Es passt zum Wahnsinn dieses Vereins, dass ausgerechnet vor diesem letzten Wochenende Löwen-Präsident Rainer Beeck allen Ernstes versichert hatte: "Es ist doch noch nichts angebrannt."

Lienen sagt nun: "Wir müssen jetzt Flagge zeigen." Das ist die einzige Wahrheit, um die es bei 1860 München geht. Schon wieder.

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