Tyler Hamilton klagt an:Wie Armstrong das Doping-System steuerte

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Die Enthüllungen im Fall Lance Armstrong setzen sich fort: Viele der Betrugsbelege, die dem siebenmaligen Tour-Sieger von der amerikanischen Anti-Dopingagentur drohten, stehen im Buch seines früheren Teamkollegen Tyler Hamilton. Der einstige Gefährte beschreibt Armstrong nicht nur als Mitläufer in Sachen Doping - seine Vorwürfe gehen viel weiter.

Thomas Kistner

Wie im Schachspiel spitzt sie sich zu, die Doping-Affäre um den weltbesten Radprofi. Das seit Mittwoch in den USA erhältliche Enthüllungsbuch The Secret Race seines langjährigen Teamgefährten Tyler Hamilton bringt Lance Armstrong nun erneut massiv unter Handlungsdruck. Hamilton beleuchtet in seiner Insider-Beichte die angeblichen Betrugsaktivitäten rund um den siebenmaligen Tour-de-France-Sieger; Armstrong müsste jetzt juristisch vorgehen gegen die sehr konkreten Vorwürfe. So, wie er es in der Vergangenheit immer getan hatte, zumal gegen weit harmlosere Angriffe. Doch hier will jeder juristische Schritt gut überlegt sein.

Tyler Hamilton während eines Interviews in New York am vergangenen Mittwoch. (Foto: AP)

Denn Hamilton und die amerikanische Anti-Doping-Agentur Usada hoffen auf eine Klage: Sie würde ihnen den Prozessweg vor eine Grand Jury eröffnen. Und dort müsste Lance Edward Armstrong die rechte Hand heben und schwören, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Eine Grand Jury belügt man nicht - was sonst passiert, hat Marion Jones erfahren. Die Sprint-Ikone hatte Doping stets bestritten, am Ende saß sie im Gefängnis.

Armstrong, der behauptet, nie gedopt zu haben, verzichtete jüngst auf ein Sportgerichtsverfahren gegen die Usada, die ihn des jahrzehntelangen Dopings bezichtigt. Die Agentur wertete dies als Geständnis und erkannte ihm alle Titel seit 1998 ab. Seither ist selbst in den USA, wo ein patriotischer Heldenkult gepflegt wird, die Front der Armstrong-Gläubigen am Bröckeln.

Jetzt das. Die Wagenladung voller Dopingbelege, die Armstrong nicht von der Usada auskippen lassen wollte, ergießt sich in Hamiltons Buch. Dort heißt es: "Lance steuerte das System - Hölle, Lance war das System." Ein System, das unerschütterlichen Armstrong-Fans sogar die letzte Hoffnung raubt: Die Mär nämlich, dass der Texaner letztlich auch nur tat, was sowieso alle tun in einer etablierten Drogenkultur. Armstrong war nicht Mitläufer, sondern Vorläufer, so Hamilton. Dank seiner Ärzte-Partner sei er stets "allen anderen zwei Jahre voraus" gewesen. Selbst innerhalb des damaligen US-Postal-Teams seien die Doping-Kuren so abgelaufen, dass Lance, der Boss, die beste Behandlung erhalten habe.

Hamilton präsentiert in überwältigender Detailfülle die Betrugspraktiken mit Epo, Wachstumshormon, Steroiden, Testosteron, Salz-, Blut- und Plasma-Infusionen. Dazu all die schattenhaften Doktoren, vorneweg der italienische "Dottore Epo" Michele Ferrari, der im Radsport lebenslang gesperrt ist. Und Absicherungspraktiken, die in jeden Spionagethriller passen: Verschleierungen, Codewörter, Geheimtreffen, Absprachen und Anleitungen über Prepaid-Handys. An einem Ruhetag bei der Tour erhielt Hamilton folgenden Text von seinem Sportarzt: "Das Restaurant ist 167 Meilen entfernt." Hieß: "Erwarte Dich in Zimmer 167 für die Bluttransfusion."

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Am Mittwochmorgen saß Hamilton mit seinem Co-Autoren Daniel Coyle in der Today Show, dem Morgenmagazin des US-Senders NBC. Coyle, der 2005 selbst ein Heldenbuch über Armstrong fabriziert hatte, erklärte, er habe "unbegrenzten Zugang zu allen Informationen" erhalten und zwei Jahre lang bei "Teamgefährten, Ehefrauen, Freundinnen, Mitarbeitern" recherchiert. Hamilton beschrieb, wie er sich im Angesicht einer Grand Jury zur Wahrheit entschlossen hatte.

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Dort war der Fall Armstrong ja bereits gelandet, doch Mitte Februar stellte der kalifornische Bundesanwalt Andrew Birotte das Verfahren überfallartig ein; ohne Begründung. Da war die Ermittlung so weit gediehen, dass die Staatsanwaltschaft Klageerhebung in Punkten wie Postbetrug, Zeugenbedrohung, Arzneiverteilung empfahl. Birotte zog heftige Kritik auf sich, zumal herauskam, dass er 2004/05 selbst im Fitness-Bereich tätig war: Als Coach im West-Hollywood-Gym; auf der Website ließ sich Birottes Angebot als Trainer für ein Gruppentraining auf Fahrrädern rekonstruieren.

Hamilton wirkt gut gewappnet. Armstrong verweise ja stets auf angebliche 500 negative Dopingtests, hielt ihm der NBC-Moderator entgegen - "ich hatte Hunderte Tests", lachte Hamilton, "unsere Ärzte waren besser als die Fahnder." Als Armstrong doch einmal, bei der Tour de Suisse 2001, mit Epo aufgeflogen sei, hätte der Weltverband UCI "die Sache beendet", so Co-Autor Coyle. Es habe ein Treffen Armstrongs mit einem Experten des Lausanner Labors gegeben, am Ende sei eine 125 000-Dollar-Spende des Texaners zur Dopingbekämpfung an den Verband geflossen. Der Vorgang ist nicht neu, doch bis heute nicht aufgeklärt. Dabei stufte David Howman, Chef der Welt-Anti-Doping-Agentur, so ein Treffen schon 2011 gegenüber der SZ als verwerflich ein: "Du kannst als Labor nicht direkte Gespräche mit Athleten haben, diese besondere Behandlung, diese besonderen Informationen darf es nicht geben."

Auch die UCI bestreitet weiter, dass ein Dopingfall Armstrongs vertuscht worden sei. Bekannt ist jedoch des Rad-Helden enges Verhältnis zum damaligen, langjährigen UCI-Boss Hein Verbruggen. Auch diese Freundschaft thematisiert Hamilton nun in seinem Buch. Nach dem Schweizer Problemfall habe Lance aus dem Teambus Verbruggen angerufen: "Der vertrauliche Umgangston warf mich um. Lance sprach mit dem Präsidenten der UCI, dem Chef des Sports. Aber es hätte ebenso gut ein Geschäftspartner sein können, ein Freund."

Zur UCI muss die Affäre nun führen, damit auch zur Rolle Verbruggens, der heute SportAccord anführt, den Dachverband der Fachverbände. Bald wird die UCI den Usada-Report erhalten mit allem Belastungsmaterial gegen Armstrong, darunter angeblich Positivbefunde bei Nachtests an früheren Dopingproben. Die UCI soll Armstrongs Titel aberkennen, auch die Tour-Siege - erst dann wird das Usada-Verdikt wirksam. Sobald dies geschieht, will die US-Versicherungsagentur SCR eine Millionenklage gegen Armstrong anstrengen. Sollte die UCI den Texaner indes weiter schonen, landet der Fall vorm Sportgerichtshof Cas.

Und der große Showdown wäre perfekt.

© SZ vom 06.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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