Süddeutsche Zeitung

Fritz Sörgel:"Dann hätten wir wieder DDR-Verhältnisse"

Der Doping-Experte über die jüngsten Hackerangriffe gegen Sportler, Schlupflöcher bei medizinischen Ausnahmegenehmigungen und mögliche Lösungen.

Interview von Johannes Knuth

Ein neuer Tag, ein neuer Satz an Unterlagen, die die Hackergruppe "Fancy Bear" ins Internet spült. Zu Wochenbeginn traf es 26 Sportler, darunter Leichtathletik-Olympiasieger Mo Farah (Großbritannien) und Tennisprofi Rafael Nadal (Spanien). 66 Athleten sind mittlerweile vom digitalen Datenklau betroffen. Ihre Unterlagen zeigen zwar keine Dopingvergehen, da sie für die aufgeführten verbotenen Substanzen Ausnahmegenehmigungen bekommen hatten, sogenannte Therapeutic Use Exemptions (TUE). Doch längst ist eine Debatte darüber entbrannt, ob und wie man kranken Sportlern den Zugang zu eigentlich verbotenen Mitteln gewähren sollte.

SZ: Herr Sörgel, seit 2013 ist die Zahl der TUEs um knapp 50 Prozent gestiegen. Werden Spitzensportler immer kränker?

Fritz Sörgel: Ich kenne keine entsprechenden Untersuchungen. Der Grund ist klar: Entweder die Sportler erkennen, dass hier ein gewisses Potenzial zur Leistungssteigerung besteht. Oder sie werden immer wehleidiger (lacht). Im Ernst: Das Problem ist, dass wir nur die Zahl der TUEs kennen, nicht die vorwiegend gefundenen Substanzen. Aus den Listen der Fancy-Bear-Hacker ist das auch nur bedingt ersichtlich. Das erschwert die Analyse natürlich.

Die Anti-Doping-Agenturen verweisen auf ihr strenges Protokoll bei einer Ausnahmegenehmigung.

Man kann sicher sagen, dass die Sportler in ihrem Verband erst mal gleich behandelt werden. Aber eine Vergleichbarkeit zwischen den Fachverbänden, zwischen Leichtathleten und Schwimmern zum Beispiel, ist derzeit sicher nicht gegeben. Ich halte die Kriterien auch nicht für ausreichend. Ein Sportler erhält ja von einem Arzt, zum Beispiel dem seines nationalen Verbandes, ein Attest für eine Behandlung. Der jeweilige Weltverband prüft das dann und erteilt eine Ausnahmegenehmigung oder nicht. Dabei steht der Arzt, der den Sportler behandelt, unter Druck, weil er etwa für den Verband arbeitet und dazu beitragen will, dass der Sportler eine Medaille gewinnt. Die Gefahr, in den Bereich des Missbrauchs zu kommen, ist da sehr schnell sehr groß.

Aber erfüllen die Ausnahmegenehmigungen dann überhaupt ihren Zweck? Oder ist das eine versteckte Dopingfreigabe?

Wenn ein Sportler seinen Sport nur noch ausüben kann, wenn er Schmerzmittel nimmt, muss man die Frage stellen, ob man das nicht im Bereich des Dopings ansiedelt. Es ist aber ein Unterschied, ob ich ein kortisonhaltiges Schmerzmittel nehme, um kurzfristig eine Entzündung zu hemmen, wie Diskuswerfer Robert Harting nach seinem Hexenschuss in Rio. Oder ob man ein Stimulans über mehrere Jahre einnimmt. Was mich gestört hat, ist, dass manche TUEs in den Listen der Hacker für vier Jahre ausgestellt wurden. Das sind ja junge Sportler, an deren Gesundheitszustand sich noch etwas ändern kann. Das ist schon ein gewisser Freifahrtschein.

Zum Beispiel bei Sportlern, die an Aufmerksamkeitsdefizit-Störungen leiden.

Bei vielen dieser Patienten steht in den Papieren der Hinweis: "Jährliche Kontrolle, ob die ADHS-Diagnose noch gerechtfertigt ist." Ob das immer gemacht wird, glaube ich kaum. Außerdem kann der Patient bei dieser Erkrankung leicht simulieren. Und die Frage, ob das Medikament noch gebraucht wird, ist schwer zu überprüfen.

Was ist mit einem Sportler, der erst durch ein Schmerzmittel seinen Sport ausüben kann? Ist das nicht auch Doping, weil man seine körperlichen Grenzen betäubt?

Wir müssen da unterscheiden zwischen Kortisonpräparaten, die entzündungshemmend und dadurch schmerzlindernd wirken, und den üblichen Schmerzmitteln wie Ibuprofen und Diclofenac, besser bekannt als Voltaren. In den Listen der Fancy-Bear-Hacker tauchen zu 90 Prozent Kortisonpräparate auf, entweder als Schmerzmittel oder für die Asthmatherapie.

Was zeigt uns das?

Dass Hochleistungssport offenbar nicht ohne Schmerzmittel betrieben werden kann. Wenn wir diesen Sport wollen, dann muss man das tolerieren. Schmerz ist ja ein sehr individuelles Erleben, und die Frage, wann man den Sport nicht mehr treiben kann, hängt von Schmerzgrenzen ab, im wahrsten Sinne des Wortes. Viele Sportler haben ihren Ruhm ja Vorfällen zu verdanken, in denen sie Schmerz überwanden. Der Turner Andreas Toba etwa, der in Rio trotz Kreuzbandverletzung weiterturnte. Oder Bastian Schweinsteiger im WM-Finale 2014 gegen Argentinien.

Das halten Sie nicht für problematisch?

Für Kortisonpräparate muss der kurzfristige Einsatz, insbesondere wenn in das Gelenk gespritzt wird, erlaubt sein. Nicht allerdings eine über Wochen gehende intramuskuläre Verabreichung, wie manche der jetzt veröffentlichten TUEs zeigen. Diese Sportler müssen, schon um ihre Gesundheit nicht weiter zu schädigen, pausieren. Kortisonpräparate sind im gewissen Umfang Psychopharmaka. Dexamethason etwa, was Robert Harting in Rio nahm, nimmt man gerne bei Tumorpatienten, weil es unter einer Chemotherapie die Befindlichkeit bessert. Letztlich sehe ich in der ganzen Debatte nur eine Lösung.

Nämlich?

Dass Sportler alle Mittel, die sie einnehmen, angeben müssen, auch Nahrungsergänzungsmittel und Vitamine. Weil man dann wüsste, wie sich der Ge- und Missbrauch von Medikamenten gestaltet. Und wenn dann jemand erwischt wird, sollten wir über die härtesten denkbaren Strafen reden. Zum Beispiel vier Jahre Sperre für Ersttäter. Vielleicht würde mehr Transparenz auch für Eltern abschreckend wirken, weil sie sehen, was aus ihrem Kind werden kann. Oder die Gesellschaft denkt darüber nach. Das wäre ein schöner Nebeneffekt.

Sie halten nichts von dem zuletzt aufgebrachten Vorschlag, medizinische Ausnahmegenehmigungen ganz abzuschaffen?

Jeder Sportler weiß, dass er sich einen Tag vor dem Wettkampf, auf den er sich ein ganzes Leben lang vorbereitet hat, durch eine falsche Bewegung um den Erfolg bringen kann. Wenn er die rettende Kortisonspritze nicht mehr bekommen kann, die ihm den Start noch ermöglicht, dann wird er schon vorher alles tun, um eine derartige Verletzung zu verhindern. Er greift also zur Prophylaxe mit erlaubten Schmerzmitteln, wie Voltaren. Dann sind wir wieder bei der Frage, was zum dauerhaften Gebrauch von Schmerzmitteln führt - nämlich nicht nur akuter Schmerz, sondern die Sorge, es könnte ja was sein. Pervers, oder? Aber so würde es kommen.

Die andere Möglichkeit wäre, die Mittel, die manche Sportler derzeit durch TUEs erhalten, für alle freizugeben.

Man kann über das generelle Freigeben schon nachdenken. Aber solange beispielsweise der Leichtathletikverband vom Kinder- über den Hochleistungssport bis zum sportelnden Greis alles organisiert, ist das keine Lösung. Dann hätten wir wieder DDR-Verhältnisse. Wir hätten massenhaft kranke, junge Sportler, der volkswirtschaftliche Schaden durch Langzeitschäden wäre verheerend. Und am Ende wären wir wieder da, wo wir jetzt schon sind. Dann sind es die Spitzensportler, die eine optimale Versorgung mit Leistungssteigerern haben. Und von den Spitzensportlern nehmen die aus armen Ländern immer noch das Antik-Anabolikum Stanozolol, während die Topathleten Zugang zu schwer nachweisbaren Substanzen und Beratung haben. Man kann das schon machen, aber dann muss man den Spitzensport vom Rest abkoppeln.

Dann wären wir endgültig im Zirkus.

In einem Hochleistungssport als Zirkus, in dem alles erlaubt ist.

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Quelle:
SZ vom 21.09.2016
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