French Open - Matches des Tages:Von Favoriten und einem Lucky Loser

Djokovic und Federer stehen im Viertelfinale. Seppi und Goffin sind ausgeschieden. War was? Oh ja! In zwei spannenden Matches kämpfte ein platter Lkw gegen einen gepimpten Mini. Und ein Nachrück-Talent gegen sein großes Idol.

Milan Pavlovic, Paris

Matches des Tages: Novak Djokovic (Serbien/1) - Andreas Seppi (Italien/22) 4:6, 6:7 (5:7), 6:3, 7:5, 6:3 und Roger Federer (Schweiz/3) - David Goffin (Belgien) 5:7, 7:5, 6:2, 6:4

2012 French Open - Day Eight

Andreas Seppi hat seine Routine geändert: Er reiste ohne Trainer an, probierte neue Trainingsmethoden, änderte seine Ernährung, wurde schlanker, schneller, pfiffiger.

(Foto: Getty Images)

Es ist ein ungemütlicher Tag in Paris. Seit Samstagnachmittag ist das Thermometer um mindestens zehn Grad gesunken, heftige Windböen sorgen dafür, dass es einem noch viel kälter wird. Wenigstens hat sich der Nieselregen, der den Beginn der Spiele am Vormittag prägte, verzogen, als Novak Djokovic und Andreas Seppi um 13 Uhr den Court Central betreten.

Seppi, der Italiener, ist 28 Jahre alt und seit vielen Monden auf der Tour, aber erst seit dieser Saison wirklich ernst zu nehmen. Vorher hatte er mehr Niederlagen als Siege angehäuft, vor diesem Achtelfinale stand er immer noch bei bescheidenen 191:210 Siegen. Ähnlich sah das Missverhältnis bei Grand-Slam-Turnieren aus, wo er in 28 Versuchen noch nie über die dritte Runde hinausgekommen war.

Djokovic hatte freilich schon vor dem Match gewarnt: "Ich habe gegen Seppi in Monte Carlo gespielt und 6:1, 6:4 gewonnen, aber das Ergebnis entspricht nicht dem Spielverlauf, es war viel knapper, und er hat mich überrascht. Außerdem ist er in meiner Heimat ein Held, weil er das Turnier in Belgrad gewonnen hat, und ich fürchte, das wird ihm viel Selbstvertrauen verleihen."

So war es, denn Seppi hat seine Routine geändert: Er reiste nun auch mal ohne Trainer und in Eigenverantwortung, probierte neue Trainingsmethoden, änderte seine Ernährung, wurde schlanker, schneller, pfiffiger. Obendrein fand er eine neue Freundin - und anscheinend voller Endorphinen startet er das Match. Ziemlich schlecht. Bald liegt er 0:3 zurück, muss zwei Breakbälle zum 2:4 abwehren, bei 3:4 den nächsten. Aber er tut das auf eine Weise, die beeindruckt: mit mutigen Grundschlägen, die Djokovic in ihrer Härte und Präzision offenbar überraschen.

Der Serbe wirkt oft flat-footed, wie die Amerikaner so schön sagen: unvorbereitet. Besonders die Longline-Schläge, auf der Vorhand, aber gerade auf der Rückhand, schlagen serienweise in den Ecken an der Grundlinie ein. Und Djokovic schaut ihnen hinterher. Einmal, zweimal, achtmal. Bei 4:4 holt sich Seppi das zweite Break, er wehrt einen weiteren Breakball ab, diesmal mit Hilfe von Djokovic, und sackt den ersten Satz ein.

Im zweiten Satz geht das fast nahtlos so weiter. Djokovic reiht Fehler aneinander, die seiner Qualität nicht würdig sind; Seppi hingegen bleibt cool, anders als früher beweist er zudem eine Menge Gefühl, vor allem bei schwierigen Volleys, die er scheinbar einfach abtropfen lässt. Dann gibt es natürlich noch diese Longline-Schüssen, die Djokovic weiterhin nicht verhindern kann, weil es ihm nicht gelingt, dem Italiener sein Spiel aufzuzwingen.

Nach einem 2:4- und 3:5-Rückstand kann der Serbe zwar egalisieren und ein 5:6 mit einem Ass verhindern. Doch bei einer 6:5-Führung verschlampt der Weltranglistenerste drei Chancen, sich einen Satzball zu besorgen, und im Tiebreak reicht ein unerzwungener Fehler zum Satzverlust.

Es ist 15.03 Uhr, Djokovic liegt nach Sätzen 0:2 zurück, eine Sensation bahnt sich an. Wie es das Drehbuch will, betritt in diesen Sekunden Roger Federer den zweitgrößten Platz.

Mit Federer kommt Goffin auf den Platz

Mit Federer kommt David Goffin, obwohl man zunächst glaubt, dass sich ein weiterer Balljunge auf den Platz geschlichen hat. Der Belgier ist laut Statistiken 1,80 Meter lang, sieht aber maximal wie 1,65 aus. Und er soll 21 Jahre alt sein, obwohl man ihn höchstens auf 16 schätzen würde. Er sieht aus wie eine Mischung aus Michael J. Fox und David Bennent, als dieser Oskar Matzerath in der "Blechtrommel" spielte.

Federer und Goffin bei den French Open

Der Jungstar und sein großes Idol: Goffin und Federer.

(Foto: AFP)

Goffin darf nur deshalb dieses Achtelfinale bestreiten, weil der Franzose Gael Monfils seine Teilnahme kurz vor Turnierbeginn zurückziehen musste. In der letzten Runde der Qualifikation gescheitert, rückte der Belgier als so genannter Lucky Loser ins Hauptfeld nach - und gewann danach drei Partien gegen höher eingestufte Kontrahenten. Die Pointe ist natürlich, dass er den berühmten Gegner aus der Schweiz in seinen Jugendtagen, die gar nicht so lange her sind, total idolisierte. Er hatte Fotos von Federer in seinem Schlafzimmer hängen. Wie süß. Trotzdem erwarten alle einen klaren Sieg des Idols.

15.25 Uhr: Rafael Nadal hat Geburtstag - und ist trotzdem so lieb, auf der Anlage vorbeizuschauen, auf der er zum Weltstar wurde. Er posiert für die Fotografen, versöhnt sich mit dem Tennis-Impresario Ion Tiriac, lässt sich im französischen Fernsehen gratulieren. Doch wenn er auf die Monitore mit den Spielständen schaut, könnte er glauben, dass ihm Novak Djokovic das größte Geschenk macht. Oder ist es dessen italienischer Gegner? Ein holländischer Journalist kommt auf das Wortspiel "Seppi Birthday to you".

15.30 Uhr: Es wäre doch wohl Djokovics Geschenk. Im dritten Satz büßt er zum zweiten Mal ein soeben erkämpftes Break sogleich wieder ein. Es steht 3:3, und wie reagiert die Nummer eins jetzt? Mit dem nächsten Break. Diesmal konserviert er es nicht bloß, sondern nimmt Seppi gleich das nächste Service ab, so dass Djokovic um 15:40 Uhr den vierten Durchgang mit eigenem Aufschlag beginnen kann.

Zu diesem Zeitpunkt ist bereits klar, dass die Federer-Partie kein Selbstläufer wird. Der Schweizer kommt weder mit dem Wind noch mit den leblosen Bällen noch mit dem langsamen Sand klar. Und am allerwenigsten mit dem Gegner, der seinem Vornamen alle Ehre macht. Goffin entpuppt sich als cleverer Spieler, der nicht bloß jedes Tempo mitgehen kann, sondern das Tempo des Gegners zu seinen Gunsten ausnutzt: Je härter Federer seine Grundschläge raushaut, desto härter kommen sie zurück. Bei 3:3 wehrt der Schweizer mit Hilfe seines Aufschlags drei Breakbälle ab.

16.07 Uhr: Nadal kann jetzt vom Doppelschlag träumen. Auf dem Court Central hat Djokovic einen Breakball zum 4:0 verdaddelt und jetzt das 3:3 hinnehmen müssen. Parallel dazu wird Federer auf dem Court Suzanne Lenglen so oft wie vielleicht noch nie auf dem falschen Fuß erwischt. Der Schweizer erinnert an einen LKW mit plattgestochenen Reifen, der ein Rennen gegen einen aufgepimpten Mini bestreiten soll. Fast ein Wunder, dass es bis zum 5:6 dauert, bis Goffin seine nächsten Chancen bekommt.

Zwei Satzbälle wehrt Federer ab, aber dann verwandelt der Belgier seinen dritten mit einem Vorhandschuss aus dem Lauf. Hektisch werden Rekordbücher durchgeblättert. Wann ist Federer zuletzt vor dem Viertelfinale bei einem Grand-Slam-Turnier gescheitert? Genau, 2004 in Paris in der dritten Runde gegen Gustavo Kuerten. Wann hat es zuletzt einen vergleichbaren Doppelschlag gegeben? 1990, als Stefan Edberg (als Nummer eins gegen den weithin unbekannten Sergi Bruguera) und Boris Becker (als Nummer zwei gegen den weithin unbekannten Goran Ivanisevic) nacheinander auf dem Court Central verloren.

"Ich werde diese Momente nie vergessen"

French Open - Matches des Tages: Novak Djokovic wirkt oft flat-footed, wie die Amerikaner so schön sagen: unvorbereitet.

Novak Djokovic wirkt oft flat-footed, wie die Amerikaner so schön sagen: unvorbereitet.

(Foto: AP)

16.40 Uhr: Seppi lässt nicht locker, gleicht nahezu ungefährdet zum 5:5 aus. Die Fans von Novak Djokovic schöpfen trotzdem Hoffnung, weil der Gewinner der vergangenen drei Grand-Slam-Turniere so ruhig wirkt wie im ganzen Spiel noch nicht. Hat er jetzt seine innere Ruhe gefunden, oder ist er bloß fatalistisch?

Die Antwort folgt um 16.45 Uhr: Da schnappt sich Djokovic den vierten Satz mit 7:5. Die Karten werden nach 3:36 Stunden neu gemischt, nur dass der Serbe einen Joker mehr auf der Hand hält, in Form des psychologischen Vorteils, den er nach dem aufgeholten Rückstand hat.

Gibt es denn wenigstens ein Geschenk für den potentiellen Finalgegner Nadal? Federer braucht nun schon 90 Minuten, um das Spiel des Gegners zu dechiffrieren. Vielleicht hat er es endlich geschafft, aber dann verhindert seine fehlerbehaftete Rückhand, dass er das ausnutzt. Dann endlich scheint er bei 4:4 zu seiner ersten Breakchance zu kommen. Nichts da, Goffin wehrt sich weiter. 5:4.

Bei seinem eigenen Service war der Grand-Slam-Rekordsieger in diesem Satz unantastbar, hat in vier Spielen nur einen Punkt abgegeben. Doch plötzlich schwächelt er, und Goffin macht zwei schicke Punkte zum 15:30. Seit eineinhalb Stunden wartet man darauf, dass der Außenseiter Nerven zeigt. Passiert das gar nicht mehr? Doch. Bei zwei Aufschlägen leistet er sich zwei vermeidbare Fehler. Und bei 5:5 leistet er sich zwei weitere vermeidbare Fehler, die Federer dessen ersten Breakball bescheren.

Eine weitere verschlagene Goffin-Rückhand, und der Schweizer ist erstmals in Führung. Was aber noch nichts bedeutet, denn nach zwei leichtfertig vergebenen Satzbällen hat Goffin die Chance zum 6:6. Was macht Federer? Schlägt einen wunderbaren Vorhandwinner gegen die Laufrichtung des Gegners, so wie es der Belgier bis dahin so oft getan hatte.

16.55 Uhr: Federer hat also ausgeglichen, wie steht es um Djokovic? Der verdaddelt bei 1:0 im fünften Satz zwei Breakbälle. Er bleibt dennoch ruhig und auf Kurs. Zehn Minuten später schenkt Seppi ihm mit einem Doppelfehler das Break zum 4:2. Djokovic baut den Vorsprung trotz Breakball auf 5:2 aus.

17.20 Uhr: Goffin hat eine Minikrise. Bei 2:4 verliert er trotz vier abgewehrter Breakbälle sein Service zum zweiten Mal im dritten Satz.

17.25 Uhr: Federer geht nach Sätzen mit 2:1 in Führung.

17.28 Uhr: Djokovic hat es doch geschafft, zum dritten Mal gelingt ihm ein Comeback nach einem 0:2-Satzrückstand. Und seine Fünfsatz-Bilanz (17:5) ist ohnehin beeindruckend, vor allem wenn man bedenkt, wie lange er mit Atemnot zu kämpfen hatte.

17.30 Uhr: "Nail in the Goffin", dichtet ein deutscher Kollege, als dem Belgier gleich zu Beginn des vierten Satzes zwei Doppelfehler unterlaufen und er 0:2 zurückliegt. Doch der kleine Kämpfer wehrt Breakchancen zum 0:3 ab und ist fortan wieder in der Partie.

18 Uhr: Goffin hat soeben ein weiteres Breakball (zum 2:5) verhindert. Nun gelingt ihm bei Aufschlag Federer ein exquisiter Punkt: Aus der totalen Defensive gelingen ihm zwei Traumschläge. Mit einem Lob schickt er Federer an die Grundlinie zurück und verwandelt danach einen Volleystopp. Dann hebt er den linken Arm und streckt den Zeigefinger aus, als habe er doch noch gewonnen. Er verneigt sich vor dem Publikum in mehrere Himmelsrichtungen.

Die Zuschauer, vom ersten Ballwechsel an elektrisiert, toben vor Begeisterung. Sie sind hin- und hergerissen. Einerseits ist Roger Federer in Roland Garros einer der absoluten Lieblinge. Andererseits ist dieser Goffin herrlich. Noch einmal bringt der Belgier sein Aufschlagspiel durch, und als Federer zwei derbe Fehler unterlaufen (Doppelfehler, verzogene Vorhand), kommt noch einmal Hoffnung bei den Fans des Außenseiters auf. Goffin unterläuft ein relativ leichter Fehler, dann demonstriert Federer, warum er Goffins Idol wurde: mit einem Ass und zwei Vorhandwinnern (einer cross, einer longline) sichert er sich nach 2:55 Stunden dieses mitreißende Match und steht zum 32. Mal in Serie im Viertelfinale eines Grand-Slam-Turniers.

18.14 Uhr: Djokovic und Federer stehen im Viertelfinale. War was?

18.20 Uhr: Federer und Goffin geben gemeinsam ein Interview auf dem Platz. Es wird eine Menge gelacht und gegiggelt. Als alles vorbei ist, streicht Federer seinem Gegner in einer Geste, die nichts Herablassendes hat, über den Hinterkopf, so wie man es bei einem Adoptivkind tun würde.

19.35 Uhr: David Goffin, der von Federer zuvor in höchsten Tönen gelobt wurde, äußert sich über sein Abenteuer. Er redet mit leiser, sanfter, fast schüchterner Stimme. Und bringt nicht nur sein Match, sondern auch den Nachmittag auf den Punkt, als er sagt: "Ich werde diese Momente nie vergessen." Diejenigen, die sie miterlebt haben, ebenso wenig.

Hier die vergangenen Matches des Tages von den French Open: Samstag (Varvara Lepchenko - Francesca Schiavone 3:6, 6:3, 8:6) und Freitag (Tomas Berdych - Kevin Anderson6:4, 3:6, 6:7 (4), 6:4, 6:4).

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