French Open - Match des Tages (7):"Mach's doch, du Depp"

2013 French Open - Day Seven

Riesensieg bei den French Open: Tommy Haas.

(Foto: Getty Images)

Diese Partie muss erst einmal verarbeitet werden: Tommy Haas schlägt John Isner nach über fünf Stunden und 13 Matchbällen. Gab es sowas schon mal? Nach dem Spiel berichten beide Spieler aus ihrem aufgewühlten Gefühlsleben. Isner klagt, er hätte das Match lieber in drei Sätzen verloren.

Von Milan Pavlovic, Paris

Match des Tages (7): Tommy Haas (Los Angeles/12) - John Isner (USA/19) 7:5, 7:6 (4), 4:6, 6:7 (10), 10:8

John Isner saß auf der Bühne, seine 2,06 Meter zusammengefaltet wie ein Origami. Die Sitzhaltung des Amerikaners hätte jeder Orthopäde beanstandet. Die Augen leer, die Augenhöhlen beängstigend grau, so als würde er gleich auf dem Set eines Zombie-Films erwartet, schilderte der 28-Jährige mit leiser Stimme, was er soeben durchlebt hatte.

"Ich mochte meine Chancen bei 4:1 im fünften Satz, aber dann hat er sich durchgesetzt. Und ich habe am Ende schon ein bisschen laboriert." Kurz danach wurde sein Gegner Tommy Haas wiederholt aufgefordert, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Aber wer so viel von sich auf dem Platz lässt, der kann irgendwann nicht mehr. "Ich habe keine Zeit, mich groß zu freuen", sagte der älteste Achtelfinalist der French Open seit 2007, etwas mechanisch und ergänzte fast schon entschuldigend: "Ich habe jetzt nicht eine Woche Zeit vor dem nächsten Match, wo man dieses Spiel genießen kann." Seine Gedanken galten schon wieder der Zukunft: Massage, Essen, Bett, Regeneration, nächster Gegner.

Zum Glück sind Tennisprofis nicht die Anwälte ihres Spiels, sonst hätte man glauben können, das Match auf Court 1 wäre ein normaler Akt gewesen. War es aber nicht. Haas' 7:5, 7:6 (4), 4:6, 6:7 (10), 10:8 in der rund gebauten "Stierkampf-Arena" war eines jener Spektakel, die verdeutlichen, wie viele Varianten und Kuriositäten dieser Sport immer noch bereit hält.

Wer sich auf ein Match mit John Isner einlässt, der weiß schon, was ihn erwartet. Es werde in Spielerkreisen zwar nicht darüber gescherzt, behauptete Haas, aber natürlich sei allen klar, dass es gegen den Hünen eng und lang werden könne. Unvergessen ist Isners elfstündiges Endlosmatch 2010 in Wimbledon gegen Nicolas Mahut (70:68 im fünften Satz). Aber auch in Paris hält der Spieler, dessen Kopf stets viel zu klein für seinen riesigen Körper wirkt, schon einen bemerkenswerten Rekord: 2012 war er am längsten French-Open-Match beteiligt, das nicht unterbrochen werden musste - fünfeinhalb Stunden wehrte sich Isner gegen den Franzosen Paul-Henri Mathieu, bevor er den letzten Satz mit 16:18 verlor.

Nun also wurde Haas Teil der Isner-Legenden. Im vierten Satz erspielte sich der 35-jährige Deutsche zwölf Matchbälle: neun bei einer 6:5-Führung, die Isner meistens mit seinem gewaltigen Service abwehrte (drei Asse, zwei unretournierbare Aufschläge), drei weitere im Tiebreak.

Im Einzelnen ging das so:

1. (aus der Sicht von Isner bei 5:6, 15:40): Vorhand-Volleywinner Isner nach längerem Ballwechsel und einem guten Netzangriff des Amerikaners. 2. (30:40): Ass von Isner mit 216 Stundenkilometern auf die Rückhand 3. (Vorteil Haas [VH]): Ass von Isner auf die Rückhand 4. (VH): Volley von Isner nach einem Ballwechsel und einem guten Netzangriff des Amerikaners. 5. (VH): Schmetterball von Isner nach einem Ballwechsel und einem guten Netzangriff des Amerikaners. 6. (VH): Return von Haas ins Netz nach zweitem mörderischen Kick-Aufschlag von Isner auf die Rückhandseite des Deutschen, der beim Return fast in der hintersten Ecke des Feldes an der Bande steht. 7. (VH): Service-Winner von Isner auf Haas' Vorhand 8. (VH): Ass von Isner mit 215 Stundenkilometern auf Haas' Rückhandseite 9. (VH): Service-Winner von Isner auf Haas' Rückhand.

Und dann im Tiebreak: 10. (bei 6:7, Aufschlag Isner): Ass von Isner auf Haas' Vorhandseite. 11. (bei 8:7, Aufschlag Haas): Doppelfehler Haas beim Matchball mit eigenem Aufschlag.

Gedanken an Mahut

Beim Gedanken daran geriet Haas doch noch einmal im Fahrt: "Da will man am liebsten... Man denkt ja genau darüber nach: Vielleicht kann ich den ersten durch die Mitte von ihm wegspielen, damit ich einen leichteren Ball zurückbekomme. Dann geht der Ball ins Aus, und ich denke mir: Ok, zweiter Aufschlag, mit Kick auf die Rückhand. Dann geht der Ball ins Aus und du denkst: Warum spiel ich nicht einfach den Ersten rein. Aber das ist ja gerade das Schöne an dem Spiel, wenn man so viele Optionen hat. Ich hatte auch überlegt, ob ich das erste Mal Serve & Volley spiele, aber dann dachte ich mir: Tu's nicht. Und dann dachte ich: Mach's doch, Du Depp."

Damit aber nicht genug:

12. (bei 8:9 und Aufschlag Isner): Ein Ballwechsel! Endlich mal wieder! Die Aussicht, sein Schicksal selbst in einem Ballwechsel bestimmen zu können, verleitete Haas freilich zu einem vorschnellen Schlag. Drei Minuten später war der Satz weg. Und damit wohl auch das Match.

Haas erinnert sich: "Dann denkt man, der John muss doch auch müde sein! Du hast doch noch den fünften Satz. Und dann geht der Satz los, und John hat zunächst plötzlich gar nicht mehr hart aufgeschlagen, und das hat mich völlig aus dem Rhythmus gebracht. Ich konnte keinen Return mehr reinspielen. Ich war in dem Moment mental nicht ready, deshalb dachte ich mir: Versuch wenigstens, deinen Aufschlag zu halten - und dann spiel ich ein katastrophales Spiel zum 0:2. Da hab ich mir gedacht: Ok, heute verdienst du's auch einfach nicht, ja? Und dann gingen mir wieder tausend Gedanken durch den Kopf. Dann ist man 0:3 hinten und fast schon in der Situation, in der man nicht mehr an den Sieg glauben kann."

Während der Partie hieß es im Internet, wo aktive Profis (wie Sabine Lisicki und Andy Murray) und ehemalige (wie Kim Clijsters) rege über die Geschehnisse auf Court 1 informierten: "Haas verspielt als Erster in drei verschiedenen Dekaden eine 2:0-Satzführung." Und an anderer Stelle: "Ich bin aufgewachsen, habe mit dem Tennis begonnen, habe geheiratet, Kinder bekommen, kam zum Fernseher zurück - und John Isner spielte immer noch." In der Tat hatte Isner wegen des Regens vom Donnerstag schon am Freitag ein Fünfsatzmatch bestritten, gegen Ryan Harrison hatte er erstmals in seiner Karriere einen 0:2-Satzrückstand noch umgedreht. Und nun schickte er sich an, das als erster Spieler innerhalb von 33 Stunden zweimal zu tun.

Philipp Kohlschreiber, der ursprünglich auf demselben Court nach Isner und Haas antreten sollte, guckte sich notgedrungen einen Teil der Partie in der Players Lounge an und erzählte: "Natürlich leidet man da mit. Es ist schon verdammt schwierig, da zuzusehen, zumal man ja merken konnte, dass dem Tommy ein kleiner Hals wächst." Seinen nur von der hereinbrechenden Dunkelheit gefährdeten 6:0, 7:6 (0), 6:1-Sieg gegen Victor Hanescu, der ihm ein Achtelfinale gegen Novak Djokovic bescherte, feierte Kohlschreiber dann auf Court 7.

Was er auf Court 1 verpasste, waren weitere skriptreife Pointen im fünften Satz. Isner ging rasch mit 4:1 in Führung, auch weil Haas zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. "Natürlich dachte ich noch an die vergebenen Gelegenheiten. Ich habe vergessen, wie viele ich überhaupt hatte. Aber körperlich fand ich mich komischerweise noch nicht in so einer schlechten Situation, weil ich soviel Adrenalin und Hass auf mich selbst hatte." Trotzdem: Nur Hasardeure hätten in dieser Phase noch auf den Deutschen gesetzt. Doch dann bemerkte dieser, dass der Gegner gezeichnet war, der Amerikaner wurde "von Krämpfen heimgesucht, ich konnte nicht mehr voll aufschlagen" - also bloß mit 210 statt 220 km/h. Haas glich aus, nur um bei 4:5 einen Matchball für Isner abwehren zu müssen. Eine abgerutschte Rückhand des Deutschen flatterte longline auf die Linie, kurz danach stand es 5:5.

Irgendwann in dieser Phase musste dann auch Haas an Nicolas Mahut denken, in Tenniskreisen inzwischen das Synonym für vergebliche Liebesmüh: "Ich hoffte, dass wir das nicht wiederholen würden - da hätte ich vermutlich das weiße Handtuch geschmissen." Musste er nicht, denn Isners Reserven waren aufgebraucht. Haas musste ein wenig Geduld zeigen, bei 8:8 schaffte er das Break, und nach 277 Minuten ließ er sich die Chance kein 13. Mal entgehen. Irgendwo in Paris tweetete Mahut an den Verlierer und die Welt: "Die fünf Sätze von gestern steckten am Ende doch schwer in den Beinen. Trotzdem: Großer Kampf, John!"

Der Amerikaner resümierte derweil nach 780 Punkten (343 gegen Harrison, 437 gegen Haas) und achteinhalb Stunden Tennis innerhalb von eineinviertel Tagen: "Ich hätte nicht erwartet, dass Tommy noch einmal so zurückkommt" - und bezog das sowohl auf Haas' Karriere als auch auf das Match: "Er verdient all den Erfolg, den er jetzt hat." Isner guckte nach unten, jetzt dachte er wieder an sich selbst: "Im Nachhinein wäre es besser gewesen, ich hätte dieses Match in drei Sätzen verloren. Ich fühle mich lausig."

Auch bei der Familie Haas hatte das Match im Hotel Spuren hinterlassen, die zweieinhalbjährige Tochter war "sauer auf die Mutter", weil die beim Betrachten des Spiels so in den Computer gebrüllt hatte. Vielleicht deshalb oder auch wegen des unangenehmen Achtelfinalgegners Michail Juschni (der im direkten Vergleich 4:3 führt) wirkte Haas fast schon unerhört sachlich angesichts eines solchen Erlebnisses. "Natürlich bin ich mächtig stolz", ließ er sich dann noch entlocken: "Genau deshalb macht man weiter, damit man solche Matches noch erleben kann oder darf. Am Jahresende werde ich vielleicht mal zufrieden auf diese Partie zurückblicken." Jetzt aber möchte Haas erst einmal der älteste Viertelfinalist in Paris seit 1971 werden.

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