Freeride:610 Höhenmeter in zwei Minuten

Freeride World Tour

Loic Burri aus der Schweiz springt bei einem Qualifikations-Event für die Freeride World Tour durch die Luft.

(Foto: dpa)
  • Im schweizerischen Verbier fahren die besten Extrem-Skifahrer und Extrem-Snowboarder um den WM-Titel im Freeride.
  • Lediglich Start und Ende des Rennens sind definiert - der Rest ist den Sportlern überlassen.
  • Freeride produziert spektakuläre Bilder - doch die erzeugen häufig Illusionen bei den Zuschauern.

Von Nadine Regel

Berti Denervaud kann sich noch daran erinnern, wie die Leute früher über seine Sportart gedacht haben. Man habe sich, so Denervaud, gewundert über "die Verrückten, wie sie den Berg hinunterfliegen". Und heute? Gibt es seit zehn Jahren eine Weltmeisterschaft, berichten Medien über seinen Sport. Doch wahrscheinlich wundern sich auch heute noch ein paar Leute. Denn Denervauds Sportart ist Freeriden: eine Sportart, die sich bewegt zwischen den Polen Freiheitsdrang und Risiko.

Im schweizerischen Verbier fahren die besten Extrem-Skifahrer und Extrem-Snowboarder um den WM-Titel. Der Unterschied zwischen normalen Skifahrern und Freeridern ist, dass letztere abseits der normalen Pisten fahren. Verbier ist der letzte Stopp der Freeride World Tour, die seit 2008 jedes Jahr von Januar bis April stattfindet. 12 Frauen und 20 Männer haben sich bei Wettbewerben in Japan, Österreich, Andorra und Kanada für das Finale in der Schweiz qualifiziert.

Denervaud, früher Snowboard-Profi, ist Chef-Juror und sogenannter "Head of Sports" bei der Freeride World Tour. Er ist der Mann, der das Bewertungssystem verantwortet. Am Bec de Rosses in Verbier fahren die Athleten die längste, steilste und schwierigste Strecke. 610 Meter Höhenunterschied, ein bis zu 55 Grad steiler Hang, Geschwindigkeiten von bis zu 100 Kilometern pro Stunde. "Die Besten", sagt Denervaud, "sind in zwei Minuten unten".

Tödliche Unfälle bei Dreharbeiten

Die Sportart Freeriden trägt das Freisein schon im Namen. Im Wettkampf sind lediglich Start und Ende des Rennens definiert. Auch ansonsten müssen die Athleten keinen bestimmten Stil zeigen: Sie können Freestyle-Elemente einbauen oder auf Geschwindigkeit setzen. Für die spätere Wertung kommt es auf Linienwahl, Air & Style, Flüssigkeit, Kontrolle und Technik an. Kontrolle ist dabei der wichtigste Aspekt, ein Kontrollverlust wird von der Jury schlecht bewertet. "Waghalsigkeit wird nicht belohnt", sagt Denervaud. Frei von Gefahren ist die Sportart dennoch nicht.

Die Kunst sei es, an seine Grenzen zu gehen, sie aber nicht zu überschreiten, sagt Felix Wiemers. Er ist neben dem Münchner Benedikt Mayr der einzige deutsche Skifahrer, der an einer Freeride World Tour teilgenommen hat. Der 29-jährige Athlet aus Hessen war schon zwei Mal bei der World Tour dabei, 2016 wurde er Siebter. "Wenn ich Angst habe, dann fahre ich die Abfahrt nicht", sagt er. "Jeder will heil vom Berg." Ein Risiko stellen vor allem Lawinen dar: Bei Wettkämpfen wählen einheimische Experten die Hänge so aus, "dass man sich hier anders als im Training oder beim Filmen keine Gedanken machen muss", sagt Wiemers. Während eines Wettbewerbs kam es noch nie zu einem tödlichen Unfall. Stimmen die Bedingungen nicht, wird das Rennen, so wie dieses Jahr in Japan, verschoben. Die Gefahren des Sports zeigte aber ein Lawinenunfall Anfang März bei der Streckensicherung für den Wettbewerb in Andorra: Ein spanischer Bergführer kam dabei ums Leben.

Auch die große Filmszene rund um das Freeriden sehen einige kritisch. Die Filmer sind stets auf der Suche nach spektakulären Abfahrten in schwer zugänglichem Gelände. Während Dreharbeiten im Jahr 2016 kam es zu zwei tödlichen Unfällen: Im April 2016 wurde die 21-jährige Schweizerin und Freeride-Weltmeisterin Estelle Balet bei einem Lawinenunfall in Orsières tödlich verletzt. Drei Monate später starb die schwedische Freeriderin Matilda Rapaport, Ehefrau des Slalomfahrers Mattias Hargin, in einer Lawine in Chile.

Olympia? "Würde den Sport total verändern"

Oft bewegen sich die Bilder von Tiefschnee-Abfahrten in Steilwänden in einem Spannungsfeld: Sie bewerben den Sport und sind wichtig für die Szene - doch zugleich können sie Illusionen bei Zuschauern erzeugen. Denervaud sagt: "Wir verstehen auch, welche Bilder wir zeigen und wie das bei jungen Menschen ankommt."

Auch der Deutsche Alpenverein befasst sich mit der Sicherheit beim Freeriden. Ihre Jugend-Organisation hat das Programm "Check your risk" ins Leben gerufen, um "junge Menschen für die Risiken im Gelände zu sensibilisieren", sagt Lukas Amm, Leiter des Programms und selbst Freerider. Er glaubt, dass durch Videos oft das Limit angehoben werde. Mit ihrer Initiative will die Organisation zeigen, dass die Youtube-Videos nur die halbe Wahrheit wiedergeben. Daneben spielen ökologische Faktoren eine Rolle: Sperrgebiete für den Tierschutz sollten unangetastet bleiben, sagt Amm, Abfahrten unterhalb der Baumgrenze sind nur in vom DAV gekennzeichneten Zonen halbwegs naturverträglich.

Eine weitere Eigenschaft, die das Freeriden vom alpinen Skifahren unterscheidet: Es ist nicht olympisch. Ob sich das ändert? Könnte sein, sagt Berti Denervaud. Er nahm 1998 als Snowboarder an den Olympischen Spielen in Nagano teil. Doch nicht jedes Land habe Berge, an denen Wettbewerbe im Freeriden stattfinden könnten. Hinzu komme, dass das IOC nur mit Verbänden zusammenarbeitet - beim Freeriden aber gibt es keinen großen Verband, trotz knapp 4000 Fahrern in der Szene, die Hälfte davon Junioren. Womöglich könnte der Internationale Skiverband vermitteln.

Ohnehin: Die Verträge für 2020 und 2024 sind bereits unterschrieben, Freeride wird bis dahin nicht dabei sein. Doch Denervaud sagt auch: "Eine Teilnahme bei Olympia ist nicht unbedingt das Ziel. Das würde den Sport total verändern und das quasi nur für Olympia."

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