Auf diesem einen Ohr ist Thomas Wörle ja nach eigenen Angaben taub. Er hat das schon oft gesagt, vor allem in der vergangenen Saison. Er wollte auf dem Ohr auch gerne taub bleiben, dabei hat es eigentlich immer Komplimente zu hören bekommen. Aber es waren nun mal Sachen, die der Trainer der Fußballerinnen des FC Bayern München lieber nicht hört. Dass seine Mannschaft Favorit auf den Gewinn der deutschen Meisterschaft sei, zum Beispiel. Dieser Satz wurde schon nach den ersten Spielen gesagt, und je näher das Saisonfinale der Frauenfußball-Bundesliga am 10. Mai rückte, desto häufiger wurde er von verschiedenen Seiten geäußert.
Am Ende musste sich Thomas Wörle eingestehen, dass die Stimmen Recht hatten - seine Mannschaft gewann am letzten Spieltag 2:0 gegen die SGS Essen und profitierte vom 1:1 zwischen dem 1. FFC Frankfurt und Titelverteidiger VfL Wolfsburg. Bayern war Deutscher Meister, zum ersten Mal seit 39 Jahren. Aber es war eben bis zur letzten Minute eine knappe Angelegenheit - nur ein Punkt Vorsprung stand in der Schlusstabelle auf Wolfsburg, drei Zählerwaren es auf Frankfurt.
An dem Gerede wird sich in der kommenden Saison, in die der FCB am 28. August gegen Turbine Potsdam startet, nichts ändern - und auch Wörles Haltung wird die gleiche bleiben. Die Rolle dieser Mannschaft allerdings ist jetzt eine andere. Sie ist nicht mehr Jäger, sondern Gejagter. "Wahrscheinlich wird uns wieder von allen Seiten die Favoritenrolle zugeschrieben. Aber wir müssen bescheiden und bodenständig bleiben wie immer", sagt Wörle. "Wir sind Meister, aber wir haben die Liga nicht dominiert. Das dürfen wir nicht vergessen. Für uns geht es jetzt vor allem darum, da oben dabei zu bleiben."
Die Vorbereitung läuft bislang nicht sonderlich meisterlich
Der letzte wichtige Test für die kommende Saison folgt dieses Wochenende auf das Trainingslager in der Schweiz mit dem Valais Women's Cup. Außer dem FC Bayern nehmen daran noch Olympique Lyon, der FC Zürich und Münchens Gegner Paris Saint-Germain teil. Es ist ein wichtiges Abtasten des eigenen Status Quo, auch wenn danach nicht viel Zeit für Veränderungen bleibt. Die Vorbereitung läuft jedoch ohnehin nicht sonderlich meisterlich.
Erst Anfang August war die Mannschaft mit den elf WM-Teilnehmerinnen komplett, vier Spielerinnen aus dem 27-köpfigen Kader fallen verletzt aus, drei davon aufgrund Operationen langfristig: Sarah Romert, Katharina Baunach und Lena Lotzen. Im Vergleich zur vergangenen Saison, als Bayern München mit zehn Weggängen und neun Zugängen einen großen Umbruch vollzog, sind dieses Jahr zwar nur wenig neue Gesichter dazu gekommen. Aber: "Wir haben WM-Spielerinnen, die in einem sehr unterschiedlichen und zum Teil nicht allzu guten körperlichen Zustand sind. Das ist unsere größte Baustelle", sagt Wörle. "Wir müssen viel Zeit darauf investieren, um alle in eine Spur zu bekommen. Auch taktisch."
Fünf Spielerinnen sind neu im Team, die in der Dreifachbelastung aus Meisterschaft, Pokal und Champions League für Entlastung sorgen sollen. "Unsere Gegner werden diese Saison doppelt motiviert gegen uns sein. Wir werden nicht viele Torchancen kriegen und erhoffen uns durch die Zugänge mehr Effektivität", sagt Wörle. Außer der Torhüterin Fabienne Weber, 23, aus der zweiten Mannschaft wurden ausschließlich Offensivkräfte dazu geholt.
Dass Wörles Team in der vergangenen Saison kein einziges Spiel verlor, lag vor allem an der stabilen Defensive, die nur sieben Tore zugelassen hat. Auch an Chancen mangelte es Bayern München nicht, nur die Verwertung machte Probleme. Mit Sara Däbritz (20, SC Freiburg), Nicole Rolser (23, FC Liverpool), Lisa Evans (23, Turbine Potsdam) und Verónica Boquete (28, 1. FFC Frankfurt) soll sich das ändern. Vor allem Boquete soll dabei helfen- ab wann sie das tun kann, ist jedoch offen, die spanische Nationalspielerin laboriert an einem Faserriss und ist die vierte Verletzte in den Reihen des amtierenden Meisters. "Wenn sie fit ist, ist sie eine unglaublich kreative Spielerin, die technisch stark und vor allem auch sehr torgefährlich ist", sagt Wörle. Die 28-Jährige weiß außerdem, wie es ist, international zu spielen. Und sie weiß, wie es ist, international zu gewinnen: 2015 holte sie mit Frankfurt den Titel in der Champions League - ein Erfahrungswert, den Wörle bei der zweiten Teilnahme des FCB gut gebrauchen kann.
Konkrete Ziele, daran hat sich nichts geändert, will der 33-Jährige auch als Meistertrainer nicht formulieren. Noch mehr Druck? Lieber nicht. "Für uns ist es diese Runde noch schwieriger, weil wir an dem gemessen werden, was wir letzte Saison erreicht haben und die Aufmerksamkeit größer ist", sagt Wörle.
Wenn ihm ab August also wieder diese Sätze mit dem Wort Favoritenrolle begegnen, wird Wörle sie nicht hören. Auf diesem Ohr bleibt er taub.