Süddeutsche Zeitung

Frankreichs Nationalteam:"Ich habe keine Lust mehr zu leiden"

Frankreichs Kapitänin Wendie Renard und zwei Teamkolleginnen treten vorläufig aus dem Nationalteam zurück. Sie fordern Veränderungen auf der Führungsebene. Gemeint sein dürfte vor allem Trainerin Corinne Diacre.

Von Anna Dreher

Am Dienstag noch freute sich das französische Nationalteam über einen erfolgreichen Start ins WM-Jahr. Ein 0:0 gegen Norwegen reichte nach Siegen gegen Dänemark und Uruguay, um das Tournoi de France zu gewinnen. Doch der Auftritt bei diesem Vorbereitungsturnier rückte ziemlich schnell in den Hintergrund. Knapp fünf Monate vor der Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland (20. Juli bis 20. August) ist das Team tief erschüttert worden von vorläufigen Rücktritten, die Nationaltrainerin Corinne Diacre unter Druck setzen.

"Ich liebe Frankreich über alles, ich bin bei Weitem nicht perfekt, aber ich kann das derzeitige System nicht mehr gutheißen, das weit weg ist von den Anforderungen, die auf höchstem Niveau verlangt werden", schrieb Wendie Renard in einem Statement, das sie jüngst in den sozialen Medien veröffentlichte. Und Renard ist immerhin die Kapitänin, Abwehrchefin und mit 142 Länderspielen im derzeitigen Kader die mit Abstand Erfahrenste. "Das ist ein trauriger, aber notwendiger Tag, um meine geistige Gesundheit zu bewahren", teilte die Olympique-Lyon-Spielerin mit: "Leider werde ich diese WM unter den aktuellen Bedingungen nicht bestreiten. Mein Gesicht mag den Schmerz verdecken, aber das Herz leidet ... und ich habe keine Lust mehr zu leiden."

In den Kommentaren und auch in eigenen Beiträgen versammelte sich die Elite des Frauenfußballs hinter Renard. Unter anderem Ballon-d'Or-Gewinnerin Ada Hegerberg sowie die Weltmeisterinnen Alex Morgan und Megan Rapinoe aus den USA sicherten Unterstützung zu. "Wie lange müssen wir noch so weitermachen, damit wir respektiert werden? Ich bin bei dir, Wendie, und bei allen anderen, die die gleichen Prozesse durchmachen. Es ist Zeit zu handeln", schrieb Hegerberg, die selbst jahrelang Norwegens Nationalteam im Bestreben für bessere Bedingungen boykottiert hatte.

Auch wenn Diacre nicht namentlich erwähnt wird, dürfte vor allem die Nationaltrainerin gemeint sein

Und als wäre das von Renards Zeilen ausgelöste Beben nicht heftig genug, veröffentlichten bald darauf die Stürmerinnen Kadidiatou Diani, 27, und Marie-Antoinette Katoto, 24, von Paris Saint-Germain (zusammen 114 Länderspiele) ähnliche Statements. Damit erinnert das, was gerade in Frankreich passiert, an die Erklärung von fünfzehn spanischen Nationalspielerinnen, die sich im September wegen ihres "emotionalen und damit gesundheitlichen Zustands derzeit außerstande" sahen, an Länderspielen teilzunehmen.

Sie stehe nicht mehr im Einklang mit der Führung des Nationalteams und den vertretenen Werten, schrieb nun Katoto: "Ich treffe daher die Entscheidung, meine Karriere auszusetzen, bis notwendige Veränderungen umgesetzt werden". Diani hielt fest, sie werde erst zurückkehren, wenn "endlich die notwendigen tiefgreifenden Änderungen eintreten". Die derzeit verletzte Griedge Mbock schrieb über den Schritt ihrer Kolleginnen: "Es ist vor allem ein Schrei aus dem Herzen, der hoffentlich gehört wird."

Ins Detail gingen Renard, Katoto und Diani nicht. Aber auch wenn sie Diacre nicht erwähnten, dürfte vor allem die 48-Jährige gemeint sein. Im Herbst 2017 übernahm die einstige Rekordnationalspielerin die Auswahl, immer wieder gab es seither Kritik und Krisen. Zuletzt war rund um die EM 2022 von Machtkämpfen, einem zerrütteten Vertrauensverhältnis und einem strengen Führungsstil die Rede. Mit manchen Spielerinnen versteht sich Diacre offenkundig nicht. Das Verhältnis zu Renard gilt als belastet, nicht zuletzt seit Diacre ihr 2017 die Kapitänsbinde erst wegnahm, um sie im Herbst 2021 wieder zur Anführerin zu ernennen. Nun scheint endgültig etwas zerbrochen zu sein.

Auch Verbandspräsident Noël Le Graët steht unter Druck, er gilt als Unterstützer Diacres

Bei der EM noch hatte es gewirkt, als habe sich die Beziehung zwischen Diacre und ihren Spielerinnen verbessert. Erstmals seit Olympia 2012 erreichten die Französinnen das Halbfinale. Dass sie dieses gegen die Deutschen verloren, verhinderte zwar erneut den ersehnten großen Titel, wirkte aber wie ein dringend benötigter Schub. Die Stimmung im Quartier, hieß es damals, soll so gut gewesen sein wie nie seit Beginn der Zusammenarbeit, auch, weil Diacre versuche, weniger autoritär aufzutreten.

Die französische Fußballföderation (FFF) reagierte prompt auf die Rückzüge. "Die FFF hat die Aussagen von Wendie Renard, Kadidiatou Diani und Marie-Antoinette Katoto zur Kenntnis genommen", teilte der Verband mit. "Das Exekutivkomitee wird sich am 28. Februar mit dem Thema befassen. Die FFF möchte daran erinnern, dass kein Individuum über der Institution Équipe de France steht." Kann man sich bei der WM eine massive sportliche Schwächung ohne diese Spielerinnen leisten? Der Vertrag von Diacre wurde vergangenen Sommer bis August 2024 verlängert. Aber ist die Nationaltrainerin nun überhaupt noch zu halten?

Auf welche Seite sich die FFF stellt, dürfte auch mit einer anderen Personalie zusammenhängen, über die laut Sportzeitung L'Équipe am Dienstag auf der Vorstandssitzung entschieden werden soll. Denn auch Verbandspräsident Noël Le Graët steht unter Druck. Gegen den 81-Jährigen läuft ein Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs des Mobbings und der sexuellen Belästigung. Seit 11. Januar lässt Le Graët sein Amt ruhen, die Anschuldigungen dementierte er. Ein Bericht des Pariser Sportministeriums kommt laut der Nachrichtenagentur AFP zu dem Schluss, dass Le Graët die Föderation nicht länger führen könne. Le Graët gilt als Unterstützer Diacres und sie als sein Protegé.

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