USA - England 2:1:Auch ohne Rapinoe erstklassig
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Von Anna Dreher, Lyon
Tja, welche Szene war nun die entscheidendere, die dramatischere? War es jene in der 79. Minute, als Ellen White auf das Tor der US-Amerikanerinnen zu rannte, den Ball schießen wollte und im Duell mit Becky Sauerbrunn stürzte? Als das erst keine Konsequenzen hatte und die brasilianische Schiedsrichterin Edina Alves Batista nach dem Videobeweis doch auf Foulelfmeter entschied? Als Englands Kapitänin Steph Houghton sich den Ball zurechtlegte, innehielt - und dann flach links ins Eck so schoss, dass US-Torhüterin Alyssa Naeher ihn noch erwischte und dann von ihrer Mannschaft und dem Publikum frenetisch dafür gefeiert wurde?
Oder war es jene in der 86. Minute, als Millie Bright nach einem Zweikampf mit Alex Morgan Gelb-Rot sah und vom Platz musste? Die englische Fußballnationalmannschaft der Frauen kämpfte trotzdem weiter bei diesem ersten Halbfinale der Weltmeisterschaft in Frankreich. Vor 53 512 Zuschauern im Stade de Lyon. Aber es reichte nicht, um die USA zu bezwingen.
Nach mehr als 90 Minuten hat es der große Turnierfavorit wieder einmal geschafft: Die USA sind nach einem umkämpften 2:1 (2:1)-Sieg als erste Nation in Frankreich ins Finale eingezogen - und werden am Sonntag gegen Schweden oder die Niederlande um ihren vierten Titel spielen.
Die Mannschaft ist auch ohne Rapinoe erstklassig
Die USA waren geradezu durchmarschiert bis ins Halbfinale dieser WM. Und sie hatten schon bei ihrem ersten Spiel hier in Frankreich ein deutliches Signal an alle Mannschaften gesendet: Das 13:0 gegen Thailand markiert den höchsten WM-Sieg seit dem 11:0 Deutschlands gegen Argentinien in China 2007 - damals wurden die Fußballerinnen des DFB schließlich auch Weltmeister. Und es scheint, als würde sich bei den USA nun ein ähnlich positiver Zusammenhang ergeben.
Mit 18:0 Toren erreichte die Mannschaft von Jill Ellis das Achtelfinale, wo sie gegen Spanien erstmals ein wenig ins Straucheln kam, am Ende mit zwei Elfmetern von Rapinoe aber dafür sorgte, dass das Turnier sein eigentliches Traumfinale schon früher zu sehen bekam: der Topfavorit gegen den Gastgeber. Trotz des großen Heimvorteils gelang es Frankreich nicht, sich durchzusetzen - auch hier entschied Rapinoe mit ihren zwei Treffern das Spiel.
Umso überraschender war es, dass der große Star des amerikanischen Teams zwar Trainingskleidung trug und mit den anderen Spielerinnen auf den Platz kam, deren Aufwärmübungen aber nur beobachtete, statt mitzuwirken. Mal an der Ecke des Strafraums, mal an der Seitenlinie, mal hatte sie einen Ball unter dem Fuß, mal stand sie einfach nur da. Ausgerechnet die Torschützin der vergangenen vier Tore, diejenige, die den dreimaligen Weltmeister zuletzt bis nach Lyon geschossen hatte - im Halbfinale wurde sie durch Christen Press auf dem Flügel ersetzt. Im Vorfeld war nichts zu einer Verletzung bekannt geworden, erst nach dem Spiel klärte Rapinoe auf, dass sie ein leichtes Ziehen im Oberschenkel gespürt habe. Eine Vorsichtsmaßnahme also. Im Finale werde sie wieder einsatzbereit sein.
Gleich nach dem Anpfiff war klar, was für ein Spiel das hier werden würde: eines, das von seiner Athletik, Geschwindigkeit, von den Zweikämpfen und der Ballbehandlung der Akteurinnen aus den bisherigen dieser WM herausstach. Weil sowohl die USA als auch England eine physische Spielweise pflegen - und sich an diesem Abend darin gegenseitig steigerten und ja auch mussten: Kein Team durfte nachlassen, sonst wäre es überrannt worden. England hat es als bisher einzige Mannschaft in Frankreich geschafft, den USA wirklich etwas entgegenzusetzen.
In der vierten Minute kamen die USA zu ihrer ersten Chance, nach einer Ecke spielte Rose Lavelle den Ball clever durch die Beine von Millie Bright, ihr Schuss aus kurzer Distanz landete jedoch ebenso wenig im Tor wie der Nachschuss von Christen Press. Aber der Druck auf England war da, die britische Defensive sofort gut beschäftigt. Und so dauerte es nicht lange, bis dieser ausgeübte Druck schließlich zu groß wurde und sich im Jubel entlud: Kelley O'Hara spielte den Ball hoch auf Press, die freistehend ihren Kopf hinhielt und den Ball in der zehnten Minute über die Arme von Telford zum 1:0 lenkte. Es war ihr erstes Tor im sechsten WM-Spiel, die vielen, lauten USA-Fans flippten aus - und Ellis hatte mit ihrer Umstellung recht behalten.
Gegen die USA in Rückstand zu geraten, ist keine angenehme Situation, England wollte diesen Zustand unbedingt ändern, agierte dann aber teils zu ungenau bei Pässen - bis in der 19. Minute der genau richtige kam. Nach einem langen Pass landete der Ball bei Ellen White, die den entscheidenden Schritt weiter nach vorne kam als ihre Bewacherinnen, dem Ball mit dem rechten Fuß eine Drehung mitgab, diesen an den rechten Pfosten und dann unhaltbar zu ihrem sechsten WM-Tor ins rechte Eck lenkte. 1:1, Ausgleich gegen die USA, dass sie das geschafft hatte, machte White selbst sprachlos, die schlug ungläubig die Hände über dem Gesicht zusammen, riss ihre Augen weit auf, und nun waren es die englischen Fans, die jubelten.
Alex Morgan macht sich selbst ein Geburtstagsgeschenk
Es ging hin und her in einem Tempo, das viele andere Teams wohl nicht hätten mithalten können. Aber hier hatten sich 22 Spielerinnen gefunden, die sich immer wieder antrieben. Auch Phil Neville hatte Änderungen in seiner Startaufstellung vorgenommen. Der frühere Manchester-United-Profi wechselte gar im Tor seine Nummer 1 Karen Bardsley aus, stattdessen musste Carly Telford die Schüsse der US-Amerikanerinnen abwehren. Sie fand gut in die Partie, die auch durch die außergewöhnliche Atmosphäre eine besondere war, aber in der 31. Minute wurde sie dann doch wieder bezwungen. Horan spielte eine hohe Hereingabe, Demi Stokes konnte Morgan nicht aufhalten, die US-Stürmerin sprang hoch in die Luft und lenkte den Ball links an Telford zum 2:1 vorbei - ihr sechstes Tor in Frankreich. In diesem Moment führten sie und White gemeinsam die Torschützenliste an. Von den Fans bekam sie danach ein Ständchen zum 30. Geburtstag gesungen. Das Geschenk hatte sie sich ja schon selbst gemacht.
Nach der Pause hätte sich White fast alleine an die Spitze gesetzt. Keira Walsh nutzte eine Lücke für einen Pass auf Jill Scott, die gab schnell weiter auf White. Abby Dahlkemper kam nicht hinterher, White schoss kaltschnäuzig, es wäre ein Traumtor gewesen - und war doch keins. Schiedsrichterin Edina Alves Batista bekam es auf ihr Ohr gesagt: Abseits. Der Rest ist bekannt.