Franz Beckenbauer:Hoch über dem Land

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Er lebt im Helikopter, im Stadion und im Werbeblock: Franz Beckenbauer hat es geschafft, immer im WM-Zentrum zu stehen, und doch unnahbar zu bleiben.

Holger Gertz

Franz Beckenbauer hat sich eine spezielle Redetechnik angeeignet über die Jahre, eine Art Choreografie des gesprochenen Wortes. Er fängt ein Statement eher analytisch an, aber nach zwei, drei Sätzen streut er ein leises Lächeln ein, um das, was er sagt, leicht und flockig klingen zu lassen, auch wenn es ernst gemeint ist.

Zwei, die sich gern haben: Franz Beckenbauer und Angela Merkel. (Foto: Foto: dpa)

Nach dem Spiel USA gegen Italien, bei dem Fußballer reihenweise mit Blutnasen vom Platz getrottet waren, hat Beckenbauer gesagt: "Das Spiel war nicht brutal. Ein paar Szenen waren halt nicht schön." Das waren die analytischen Sätze. Er sagte weiter: "Aber Fußball ist kein Erholungsheim."

Beckenbauersche Dreiklang

Bei "Erholungsheim" begann er bereits zu lächeln, Erholungsheim war das Signalwort dafür, dass es jetzt launig weitergehen würde. In der Tat ließ er dann das Ganze in einer munteren Alltagsphilosophie stranden: "Wenn wir keine Härte sehen wollen, müssen wir zum Basketball gehen." Der Beckenbauersche Dreiklang lässt sich im Prinzip auf alle Lebenslagen anwenden, was Beckenbauer auch ausführlich tut.

"Das Wetter ist noch nicht so gut", sagte er bei einer Veranstaltung kurz vor der WM. "Aber der Wettergott, ähäm, er wird ein Einsehen haben." Er lächelte, Wettergott war das Signalwort. Er vollendete seine Rede wie geplant: "Die Spieler werden ihre Badehose einpacken müssen."

Natürlich hatte der Wettergott ein Einsehen. Es war wie immer, wenn Beckenbauer sich einer Sache annimmt. Alles glückte. Der Sommer kam pünktlich am 9. Juni um 18 Uhr, als das Eröffnungsspiel angepfiffen wurde. Und pünktlich am Montag, wenn die WM vorbei ist, wird er verschwunden sein. Aber alle Mexikaner, Angolaner und Togolesen werden daheim noch lange erzählen, wie heiß es ist in Germany.

Das nationale Glücksschwein

Über Franz Beckenbauer zu schreiben heißt: über Glück zu schreiben. Bestimmt hat da und dort mal jemand einen Flugzeugabsturz überlebt, man hört auch von Leuten, die sieben Millionen im Lotto gewinnen, aber das ist nichts gegen das nationale Glücksschwein Franz, der im Sportstudio einmal einen Ball vom Rande des Bierglases in das Loch der Torwand gekickt hat. Ein Mann, der das fertig bringt, kann auch den Sommer bringen.

Die WM, von ihm organisiert, gilt schon vor dem Finale als Mutter aller Weltmeisterschaften. Obwohl es viele langweilige Spiele gab, aber für die Taktik der Trainer ist ja er, Beckenbauer, nicht verantwortlich. Er war Weltmeister als Spieler, als Trainer, als Organisator ist er es jetzt auch, obwohl die deutsche Mannschaft nicht Weltmeister wird. Aber für die Mannschaft ist ja er, Beckenbauer, nicht verantwortlich. Allerdings, wäre Beckenbauer Teamchef gewesen, hätte Kahn im Tor gestanden und den Ball des Italieners Grosso im Halbfinale weggeboxt.

Hätte Franz Beckenbauer, zusätzlich zu seiner Aufgabe als OK-Chef, auch das Team trainieren können? Selbstverständlich. Er hätte auch das Abitur nachmachen können während der WM. Er war imstande, drei Spiele an einem Tag zu besuchen, sein Hubschrauber brachte ihn von dort nach da:

Franz Beckenbauer hat gesagt, vom Hubschrauber aus ähnele das Land einem Paradies, er hat das mehrmals gesagt, eigentlich immer, und auf diese Weise hat er nicht nur Werbung für das Land gemacht, sondern auch für den Hubschrauber, ein - jenseits des Rettungsdienstes - bislang kaum wahrgenommenes Fortbewegungsmittel.

Ranschmeißerische Fragen

Gäbe es einen Verein für die Popularisierung des Hubschrauberwesens, dieser Verein müsste Beckenbauer sofort die Ehrenmitgliedschaft antragen. Es war faszinierend zu sehen, wie Beckenbauer, vor kurzem 60 geworden, den Hubschrauber jedes Mal so knitterfrei verließ, wie er ihn bestiegen hatte.

Es war noch beeindruckender, wie Beckenbauer am Abend, kurz vor dem Heimflug in sein WM-Quartier, die ranschmeißerischen Fragen der ZDF-Reporters Hiepen ertrug und am Ende eines jeden Gesprächs nicht vergaß, das Publikum an den Fernsehschirmen zu grüßen.

Am nächsten Tag sah man ihn - den Anzug wie auf den Leib gebügelt - im Stadion, neben Prinzen, Präsidenten, neben dem flummiartigen Diego Maradona und neben Schönheitsköniginnen, neben Hochadel und auch neben dem Vizepräsidenten von Iran. Und wenn man im Pressezentrum saß, kam es vor, dass ein ausländischer Journalistenkollege fragte: "Do you know the guy next to Fränz?"

Könige danken ab, Präsidenten werden abgewählt, Regierungschefs überstehen Vertrauensfragen nicht, Kanzler verschwinden. Der Fußballaltkanzler Schröder war so wenig präsent bei der WM, dass man in seinem Fall an Dematerialisierung glauben kann. Politiker sind flüchtig, und was hilft es ihnen, dass sie sich den Schal ihrer Nationalmannschaft umlegen?

Beckenbauer - ungewählt, aber auf Lebenszeit in einem Amt, das Beckenbauer heißt - trägt keinen Schal der Nationalmannschaft, und auch wenn er sonst aufs Engste mit der Bild-Zeitung zusammenarbeitet - deren billige Gesichtstattoos in schwarz-rot-gold hat er sich nicht aufgeklebt. Franz Beckenbauer gehörte während seiner WM zu den öffentlichen Menschen im Land, die kein Fähnchen schwenkten.

Als wäre Goethe auferstanden

Er hat die Fans veranlasst, verrückt zu spielen, er muss dann nicht selbst auch noch verrückt werden. Beckenbauers Lässigkeits- und Lebensprinzip: Der Verursacher von allem ist im Zentrum des Geschehens, aber scheinbar irgendwie auch außen vor. Er ist, was er war, der freie Mann, der freie Franz.

Was macht ein OK-Chef, wenn er nicht OK-Chef ist? Er holt erst mal die WM nach Deutschland. Auch wenn manche wissen, dass in Wahrheit Politik und Wirtschaft mit Deals mitgeholfen haben - es hat so oft in der Zeitung gestanden, er, Beckenbauer, habe die WM geholt.

Da ist es für die Massen längst wahr. Beckenbauer muss das nicht mehr selbst behaupten, es gibt genug Schwarzenbecks, die ihm die Dreckarbeit abnehmen. Sie malen an seinem Bild. Untertitel aus dem FAZ-Feuilleton, Anlass war sein 60. Geburtstag: "Wie im Morgenglanze - Beckenbauer unter den Deutschen."

Es klang, als wäre Goethe wiederauferstanden.

Was macht ein OK-Chef dann? Er bereist alle qualifizierten Länder. Es war Beckenbauers Idee, das zu tun, und es war schon deshalb eine Herausforderung, weil sich in seinem Gepäck jeweils eine großformatige Ausgabe des WM-Maskottchens Goleo befand, die er den Herrschern von Tunesien bis rauf nach Schweden überreichen musste.

Sein Tag hat 28 Stunden

Man kann sich kaum etwas Peinlicheres vorstellen, als zum erstenmal in ein stolzes Land wie Ghana zu kommen und nichts dabei zu haben als einen nackten Löwen mit halb geöffnetem Maul, aber er brachte auch das wie im Morgenglanze über die Bühne. Nur einmal, in Prag, hat er den Protokollchef mit dem Innenminister verwechselt, aber das war auch schon wurscht.

Was macht ein OK-Chef dann, bei der WM? Er lebt im Helikopter, er lebt im Stadion. Er dehnt den Tag auf 28 Stunden.

Beckenbauer hat neben der intensiven Spielbeobachtung in Enkenbach-Alsenborn ein Fritz-Walter-Denkmal eingeweiht, in der Lüneburger Heide per Videobotschaft die Fußballweltmeisterschaft der Deutschen Post eröffnet, sich im Wappensaal des Roten Rathauses ins Gästebuch der Stadt Berlin eingetragen, wobei er bei seiner Dankesrede Worte wählte, die von der Textschwere her dem frühen Udo Jürgens Ehre gemacht hätten: "Das ganze Land tanzt, das ganze Land hat sich das beste Kleid angezogen."

Er hat die exklusive Lounge der Airline Emirates am Münchner Flughafen eröffnet, für die Fluggesellschaft ist er als eine Art Werbebotschafter unterwegs. Franz Beckenbauer ist Emirates Global Ambassador for Sports and Social Activities. Er hat im S-Bahnhof Potsdamer Platz mit seinem alten Fußballkumpel Pele eine Wachsfigur Peles enthüllt, wobei Pele wächserner aussah als seine Wachsfigur, Franz hingegen: wie immer tiptop.

Er ist Teil der Natur

Er hat schließlich bei der T-Com-Party auf den Dachterrassen des Bayerischen Hofs mit Claudia Effenberg geredet, allen bei der WM gescheiterten Mannschaften einen persönlichen Abschiedsbrief geschrieben und der Bunten ein Interview gegeben, in dem er auch über Heidi Burmester sprach, Mutter seiner kleinen Kinder und Lebensgefährtin. "Heidi lässt mich sein, wie ich bin. Sie gibt mir Luft und Raum. Sie lässt mich Mann sein."

Der letzte Satz ("Sie lässt mich Mann sein") wirkt für sich genommen etwas rätselhaft, erschließt sich aber, wenn man ihn in Zusammenhang sieht mit einem weiteren, etwas älteren Interview in der Bunten, in dem Beckenbauer erklärt hatte, wenn er "in stofflicher Form wieder auf die Welt käme, wäre es keine schlechte Idee als Frau". Beckenbauer verwischt die Geschlechtergrenze. Er ist Teil der Natur, aber irgendwie auch außen vor.

Es gab ein paar Sensationen bei der WM, aber es gelang Beckenbauer auf subtile Art, für die größte Sensation selbst zu sorgen. Ein Mann, dessen Lauf- und Flugbewegungen von den Nachrichtenagenturen in alle Welt gesendet werden: Dieser Mann ist imstande, sich allem zu entziehen.

Er hat während der WM geheiratet, in Österreich, wo er lebt und Steuern spart. Das Trauzimmer in Oberndorf war mit Pfingstrosen geschmückt, der Bräutigam trug eine weiße Rose am Revers, und der Bürgermeister von Oberndorf hatte tatsächlich dicht gehalten. Der Mann heißt Hans Schweigkofler.

"Hochzeit war gestern"

Als die Bild-Zeitung die Nachricht in die Welt hinaustrug, saß Beckenbauer mit seiner Frau längst wieder beim Achtelfinale Deutschland gegen Schweden. Deutschland gewann, die Schweden spielten, als hätten sie bei der Hochzeitsfeier in den Bergen ordentlich getrunken. Beckenbauer sagte: "Ja mei, Hochzeit war gestern, jetzt ist wieder Weltmeisterschaft."

Und wer sich auskennt in Beckenbauers Stammdaten, fand bald heraus, dass der 23. Juni nicht durch Zufall der Hochzeitstag war, es war auch der Geburtstag seiner Mutter Antonie, die er begraben hatte, wenige Monate, bevor die WM eröffnet wurde. Beckenbauer hat seine Mutter geliebt, und von allen Momenten der Beckenbauerfestspiele im Fernsehen der vergangenen Jahre hatte sich dieser besonders eingeprägt: Wie das ZDF zu Beckenbauers Sechzigstem im Herbst eine gewaltige Gala inszenierte.

Wie bei dieser Gala auch Beckenbauers Mutter auftrat, zum ersten Mal seit Jahren in der Öffentlichkeit. Eine Frau von über neunzig, eine Frau aus Giesing, die sich vorsichtig über die Bühne bewegte. Er nannte sie Mutter, sie nannte ihn Franzie, und wenn man Beckenbauer jetzt sieht, auf der Ehrentribüne, kann man sich vorstellen, er würde sich wünschen, seine Mutter hätte das noch mitbekommen. Vielleicht wäre das das kleine Stück, das sogar ihm zum großen Glück noch fehlt.

Franz Beckenbauers sinnfreies Gerede nach dem Spiel ist legendär, aber schlimmer als der Redende ist der, der das Gerede als Analyse durchgehen lässt. Franz Beckenbauers Kolumnen in der Bild sind ärgerlich, sie zu lesen und zu vergessen ist eins. Die diktatorischen Patriotismusbefehle der Bild-Redaktion ("Trocknet Eure Tränen!") sind dagegen unerträglich. Beckenbauers Größe liegt auch an der Winzigkeit derjenigen, die ihn umschmeicheln. Aber, dafür kann man nicht ihn verantwortlich machen.

Unterwegs Richtung Mond

Er verklärt sich manchmal, er hat so Phasen, da trägt es ihn davon. Dem Spiegel hat er ein Interview gegeben und gesagt: "Wenn das Interview beendet ist, dann ist das weg. Schon unterwegs Richtung Mond, Mars." Bei der WM-Bilanzpressekonferenz hat er gesagt: "Wenn die WM vorbei ist, verlässt die Weltmeisterschaft die Erde Richtung Mond, vielleicht Richtung Mars und fliegt vielleicht raus aus dem Sonnensystem."

Es ist also bald eine Menge unterwegs Richtung Mond, Richtung Mars. Franz Beckenbauer sagt, am 10. Juli wird er nach Hause gehen. Er verlässt seinen Hubschrauber, schnallt sich den Rucksack um, packt das ganze Glück rein und macht sich auf den Weg, die Berge rauf, nach Österreich, zu den Kindern, zu einer Frau, die ihn Mann sein lässt.

Er wird keine WM-Postbankbälle mehr im Werbefernsehen treten, keine WM-Weißbiergläser über Wiesen tragen, nicht mehr vom Weihnachtsschlitten aus Handys ins Volk werfen. Die Werbeblöcke werden gekürzt, der Hauptdarsteller fehlt.

Und dann? Das ist die Frage. Nach der WM kommt eine neue Phase. Thomas Bernhard hätte ein Stück darüber geschrieben und es Entfranzung genannt. Die Entfranzung wird nicht ganz einfach. Vermutlich nicht mal für den Franz.

© SZ vom 7.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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