Mit der Nostalgie ist es so eine Sache, sie ist selten ein Selbstläufer. Sie will genährt werden, immer wieder aufs Neue. Das Sehnen soll sich schließlich lohnen.
„Die Rückkehr des Prinzen“, titelte die Zeitung Le Parisien vor dem Spiel der Franzosen gegen Italien im Parc des Princes, erster Spieltag der Nations League, Gruppe B. Und natürlich war das auch eine Anspielung auf den Namen des Stadions, in dem Kylian Mbappé, einer der liebsten und gleichzeitig meist diskutierten Söhne der Stadt, sieben Jahre seines noch immer jungen Lebens aufgetreten war. „Rückkehr“ hörte sich auch so an, als wäre Mbappé schon unverschämt lang weg, davongeflogen nach Madrid. Nun, es sind vier Monate. Und so verrückt es anmuten mag: Wehmut mochte sich keine einstellen, ah non.
Die Bleus starteten furios, mit einem Tor von Bradley Barcola in der zwölften Sekunde nach einem Fehler der italienischen Abwehr, was die Kommentatoren auf TF1 kurz in große Aufregung versetzte: „Ist es unser schnellstes je erzieltes Tor?“ Barcola übrigens ist so etwas wie der Nachfolger des Prinzen bei PSG: Mbappés Erbe auf dem linken Flügel. Er erinnert dabei oft an den frühen „Kyky“, als der den Gegnern noch Knoten in die Beine flocht mit seinen Sturmläufen. In den ersten drei Ligue-1-Spielen ohne Mbappé traf die Pariser Offensive schon 13 Mal, auch ohne Neuner und ohne ganz, ganz große Namen. Barcola allein schoss vier Tore, in 154 Spielminuten, eine ansehnliche Quote. Ist die Nostalgie vielleicht deshalb nicht so groß?
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Barcola hätte in dieser zwölften Sekunde gut auf Mbappé ablegen können, der stand frei neben ihm und gestikulierte. Aber irgendwie war das jetzt sein Moment. Mbappé hatte dann noch eine gute Szene, in der siebten Minute: Eckball für Frankreich, er bewegte sich zur Fahne, wie er das früher oft tat in diesem Stadion, und animierte das Publikum in der Kurve mit ausladenden Armbewegungen zu noch lauteren Aufmunterungschören. Danach wurde es still um den Rückkehrer.
Die Azzurri dominierten das Spiel nach dem frühen Gegentor so diskussionslos und spielten dabei zuweilen so schönen und geistreichen Fußball, dass sie auch in Italien überrascht waren. Gerade in Italien. Was war man sich in Selbstkritik ergangen, nach der blamablen Europameisterschaft! Eine verlorene Generation sei das, hieß es.
Und nun das. 3:1 gegen Frankreich. Sandro Tonali etwa, auch er ein Rückkehrer, wieder auf dem Platz nach seiner Sperre wegen illegaler Spielwetten, gab den natürlichen Chef mit viel Lust auf eine Demonstration: Er war überall. Sein Hackentrick auf Federico Dimarco, der dann zum Ausgleich traf (30. Minute), war allein schon Sühne genug. Davide Frattesi (51.) und Giacomo Raspadori (74.) legten nach. „Italiens Show: Was war das für eine Nacht?“, fragt die Gazzetta dello Sport, offensichtlich verwundert.
Bei den Bleus dagegen wanken jetzt die Herrschaftsverhältnisse. Die Zweifel an Ewigtrainer Didier Deschamps, im Amt seit 2012, und an dessen konservativ-sterilen Spielideen, die waren schon vorher da gewesen. Die EM war ja auch keine Gala der Franzosen, um es nett zu sagen. Mbappé brach sich die Nase, kam zurück, traf nur einmal, ein Elfmeter. Sonst war nichts. Dass es die Franzosen dennoch bis ins Halbfinale geschafft hatten, erschien selbst den Franzosen unverdient.
Es gab wieder Diskussionen über DD und über dessen stures Beharren auf Antoine Griezmann, seinem „Chouchou“, seinem Liebling, der schon lang nach seiner Rolle sucht. Doch Deschamps entschied dann, dass er weitermacht, bis 2026 mindestens.
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„L’inquiétude“, titelt L’Équipe, die große französische Sportzeitung. Die Besorgnis. Frankreich, das wussten die Kommentatoren auf TF1 nämlich auf Anhieb, hatte davor noch nie verloren, wenn es im Prinzenpark empfangen hatte. Man spielt sonst meistens im Stade de France, das ist aber gerade für die Paralympics besetzt. Eine unhübsche Premiere also ausgerechnet beim Wiedersehen mit dem kleinen Prinzen.
In den letzten elf Spielen mit den Bleus traf Mbappé, Kapitän der Mannschaft, nur zwei Mal. Das muss schon als Krise gedeutet werden. Mbappé wäre so gern Mittelstürmer, mit aller Macht drängt er ins Zentrum, dahin, wo viel Volk steht, zu viel Volk. So weicht er ständig aus, auf rechts, noch lieber auf links - ziemlich erratisch, mit kurzen Glanzmomenten. Seine Leistung gegen Italien? Note 3 für die Équipe – die Skala geht von 1 bis Bestnote 10. Mit „Kyky“ sind die Franzosen nun mal immer etwas kritischer als mit anderen. Wenn der sein großes Talent nicht jedes Mal mit Toren aufs Neue unter Beweis stellt, ist Frankreich enttäuscht, es fühlt sich dann beinahe verraten.
Das ist absurd. Doch Mbappé sagt von sich, er habe damit zu leben gelernt. Als man ihn vor dem Spiel gegen Italien nach seinem Befinden befragte ob all der Kritik, sagte er, er sei jetzt in einem Stadium seiner Karriere und seines Lebens angelangt, mit 25 Jahren, dass er manche Dinge einfach ausblende. „Ich komme, ich spiele. Was die Leute denken, ist das kleinste meiner Probleme, man kann nicht alle immer zufriedenstellen.“ Auch wenn das wohl eine Sehnsucht eines jeden Fußballers ist.