Buhrufe wie die englischen Kollegen nach deren verpatzter EM-Generalprobe gegen Island (0:1) musste die französische Nationalmannschaft nicht über sich ergehen lassen. Dabei war das fade 0:0 am Sonntag im letzten Vorbereitungsspiel vor der Europameisterschaft gegen Kanada auch nicht gerade dazu angetan, das Vertrauen Frankreichs in seine Helden zu steigern. Dass die Leute in Bordeaux der Équipe dennoch zujubelten, lag womöglich an den geringen Ansprüchen des dortigen Publikums. Das nämlich hat sich vermutlich schon an uninspirierte Auftritte gewöhnt, ihre Girondins kicken seit zwei Jahren in der zweiten Liga.
So stapften Les Bleus, angeführt von ihrem spät eingewechselten Kapitän Kylian Mbappé und dessen Stellvertreter Antoine Griezmann, einmal in jede Ecke des Stade Matmut Atlantique und holten sich eine Dosis Beifall ab. Dass sich die französischen Medien mit Applaus eher zurückhielten, dürfte keinen überrascht haben angesichts eines weitgehend fantasielosen Auftritts des EM-Favoriten.

Nagelsmann und Neuer:Streng verboten: eine Torwartdiskussion
Manuel Neuer patzt erneut, doch Julian Nagelsmann stellt sich demonstrativ hinter seinen Torhüter. Auch sonst wählt der Bundestrainer nach dem Test gegen die Griechen die rhetorische Vorwärtsverteidigung.
Nur in der Anfangsphase konnte Frankreich, der WM-Finalist von 2022, halbwegs den Ansprüchen genügen. Doch N’Golo Kanté scheiterte an Kanadas Torwart Maxime Crépeau (8.), der kurz danach auch einen Versuch von Stürmer Marcus Thuram an die Latte lenkte und schließlich einen Griezmann-Schuss mit den Fingerspitzen abwehrte (19.).
Die vom früheren Leipziger Coach Jesse Marsch trainierten Kanadier, die in Kürze bei der Copa América in den USA auf Argentinien, Peru und Chile treffen, fanden sich immer besser zurecht. FC-Bayern-Profi Alphonso Davies lieferte sich intensive Duelle mit Ousmane Dembélé, und vorn hätte Liam Millar vom englischen Zweitligisten Preston North End die Franzosen beinahe geschockt, als er mit einem Schlenzer die Latte traf (47.). Erst gegen Ende wurde Frankreich noch einmal gefährlich, aber Randal Kolo Muani setzte einen Kopfball nach Flanke von Kingsley Coman frei stehend vorbei (90.+1) – und dann scheiterte noch Mbappé nach einem Solo an Keeper Crépeau (90.+6).
Frankreichs EM-Gruppengegner heißen Österreich, Niederlande und Polen
Damit reisen die Franzosen nach dem ebenfalls zähen 3:0 vom vergangenen Mittwoch gegen Luxemburg keineswegs unbeschwert ins Team-Quartier in den ostwestfälischen Kurort Bad Lippspringe. Hier versucht Nationaltrainer Didier Deschamps – vermutlich ohne Kneipp-Anwendungen – die körperlichen und seelischen Wehwehchen seiner Spieler zu lindern und sie in Form zu bekommen für die schweren EM-Gruppenspiele gegen Österreich, Polen und die Niederlande.
Der 55 Jahre alte Fußball-Lehrer zog eine moderate Zwischenbilanz nach den Einheiten im französischen Trainingszentrum in Clairefontaine und den beiden Testspielen: „Insgesamt sind die zehn Tage gut verlaufen, was die tägliche Trainingsarbeit und den Gemütszustand der Gruppe angeht. Und das, obwohl wir mit später eintreffenden Spielern und kleineren körperlichen Problemen umgehen mussten“, sagte Deschamps.
Wobei sich die Frage stellt, ob Mittelfeldspieler Aurélien Tchouaméni tatsächlich nur ein „kleineres“ Problem in seinem lädierten linken Fuß plagt. Er bestritt sein letztes Spiel für Real Madrid vor über einem Monat, das Champions-League-Rückspiel gegen den FC Bayern. Auch Adrien Rabiot musste die letzten beiden Tests auslassen, dafür scheint sich die überraschende Rückkehr von Kanté, der mittlerweile bei Al-Ittihad in Saudi-Arabien spielt, als voller Erfolg zu erweisen. „Er ist ein Startelf-Kandidat“, sagt Deschamps.
In der Abwehr dürfte nach dem Ausfall von Lucas Hernández (Kreuzbandriss) William Saliba vom FC Arsenal die besten Chancen für einen Stammplatz haben. Dayot Upamecano und Ibrahima Konaté streiten um die zweite Stelle in der Zentrale. Kaum Chancen auf die Startelf hat dagegen Benjamin Pavard, der in den beiden jüngsten Tests nur eine knappe halbe Stunde an Spielzeit erhielt.
Vorn steht und fällt alles mit der Form von Real-Zugang Mbappé. Oder, wie es Deschamps ausdrückt: „Ob Kylian spielt oder nicht, macht einen erheblichen Unterschied für unsere Mannschaft.“ Frankreichs Rekordtorschütze Olivier Giroud, 37, der vor einem Wechsel zum Los Angeles FC steht und seine internationale Karriere nach der EM beenden wird, erhielt in seinem mutmaßlich letzten Profispiel auf französischem Boden am Sonntag viele Ovationen. Er agierte jedoch ungelenk und dürfte beim Turnier über eine Jokerrolle kaum hinauskommen.