Frankreich:Frankreichs Fußball erlebt seinen bisher größten Riss

Frankreich: Fassungslos vor dem Zaun, der dem Druck der Massen nicht stand hielt: Sicherheitskräfte begutachten in Amiens den Ort der Katastrophe.

Fassungslos vor dem Zaun, der dem Druck der Massen nicht stand hielt: Sicherheitskräfte begutachten in Amiens den Ort der Katastrophe.

(Foto: Francois Lo Presti/AFP)
  • Die gegenwärtige Zerrissenheit in Frankreichs Fußball wird in der Berichterstattung über die Ereignisse des Wochenendes deutlich.
  • Er wankt zwischen bescheidener, zuweilen dekadenter Provinz und der Gala des neureichen Klubs Paris St. Germain.
  • Hier geht es zu den Ergebnissen im internationalen Fußball.

Von Oliver Meiler

Es hätte noch viel schlimmer ausgehen können, dramatischer, tödlich. Je häufiger man sich die Bilder aus dem kleinen Stade de la Licorne von Amiens anschaut, die am Wochenende um die Welt gingen, desto wunderlicher erscheint, dass niemand umkam.

Es lief die 16. Minute im Ligaspiel zwischen Amiens SC, dem Aufsteiger, und Lille. Ein Derby im Norden Frankreichs, das mit einer gewissen Ungeduld erwartet worden war, vor allem von den Gastgebern. Gerade hatte Fodé Ballo, ein Außenverteidiger der Gäste, das 1:0 erzielt, standesgemäß. Er war zur nahen Kurve der mitgereisten Fans gerannt, hatte dazu recht ausgelassen gejubelt. Da drängten 200 bis 300 Anhänger von Lille runter zum Metallzaun, der die Tribüne vom Rasen trennte. Ein Massenrollen, eine kollektive Ruckbewegung, wie orchestriert. Der Zaun hielt dem Druck nicht stand. Er faltete sich, klappte einfach weg. Dutzende stürzten in den Graben, fast zwei Meter tief. Auf den heran gezoomten Bildern sieht man, wie die Menschen durcheinander gewirbelt werden, als wären sie leichte Kegel.

29 Fans wurden verletzt, fünf schwer, jedoch keiner lebensgefährlich. Drei Minderjährige waren dabei. Das Spiel wurde unterbrochen und nicht wieder angepfiffen. Die Kameras holten auch Marcelo Bielsa näher heran, den argentinischen Starcoach von Lille, der wie immer im Trainingsanzug neben der Bank kauerte, den ganzen Schrecken in einem Gesichtsausdruck, als noch nicht klar war, dass alle mit dem Leben davonkommen würden. Ein Wunder also.

Doch die Freude über dieses Wunder vermochte die Polemik nicht zu verhindern, die nur Stunden danach einsetzen sollte. Das Stade de la Licorne, das Stadion des Einhorns, wie es in Anlehnung an das Fabelwesen im Wappen der Stadt und im Logo des Vereins heißt, ist schon lange im Gerede wegen seiner prekären Sicherheit. Es hat eine eindrückliche Form mit seinen hohen, durchsichtigen Dächern, die wie Klammern in den Himmel ragen. Die Konstruktion soll vor dem Wind schützen, der dort oben, im Norden, auch einmal unangenehm blasen kann.

Als das Stadion 1999 eingeweiht wurde, galt es als architektonischer Wurf. Bald aber wurde klar, dass das Dach aus Glas gefährlich war. Vor einem Jahr ergab eine Studie, dass diese Gefahren gar "gravierend" seien. Wohl niemand rechnete damit, dass Amiens aufsteigen würde. Da war aber schon beschlossen worden, das Stade de la Licorne ganzheitlich zu sanieren und Tausende Glasplatten durch solche aus Kunststoff zu ersetzen. Tribüne um Tribüne. Statt der maximal 12 000 Zuschauer beträgt die Kapazität nun während der gesamten Saison nur etwa 9500. Ausgerechnet im Jahr des Ruhms ist das Stadion eine Baustelle. Und darum stellt sich nun auch die Frage, ob mit dem Zaun im Gästesektor alles in Ordnung war.

Amiens Präsident Bernard Joannin wies alle Vorwürfe zurück: Die Schutzschranke sei in einem "perfekten Zustand" gewesen, sagte er. Schuld trügen allein die "hitzigen Ultras" von Lille, die angeblich den Platz hätten stürmen wollen, das sei nun das Resultat. Die Klubspitze von Lille gab sich empört über das "hohe Maß an Verantwortungslosigkeit" des Kollegen. Gemeint war wohl ein Mangel an Sensibilität. Nun soll eine Untersuchungskommission des Ligaverbands die Vorgänge prüfen.

Das "Penalty-Gate" in Paris ist passé

Im französischen Fußall gibt es gerade viel zu prüfen und grundsätzlich zu hinterfragen. Er erlebt den bisher größten Riss in seiner Geschichte, er wankt zwischen bescheidener, zuweilen dekadenter Provinz und der Gala des neureichen, mit wahnsinnig viel Geld vom Golf aufgepeppten Klubs aus der Hauptstadt, der alles überstrahlt - sogar international. Frankreichs Zeitungen teilten ihre sonntägliche Berichterstattung dann auch in zwei große Bereiche, die dieser gegenwärtigen Zerrissenheit symbolhaft Rechnung trugen: Einer galt dem Unfall im baufälligen Stadion von Amiens in der Picardie, der andere Paris Saint-Germain und dessen "betäubendem Sieg" gegen Bordeaux, wie L' Equipe ihn beschrieb.

6:2. Ein Sturmstrudel war das, der nun die Debatte befeuert, ob PSG dem französischen Fußball nicht gerade unwiederbringbar entwachsen sei und ob das eigentlich alles wettbewerbstechnisch überhaupt noch Sinn ergebe. Neymar traf per Freistoß aus 28 Metern. Edinson Cavani schloss eine schnelle Kombination ab, die das jüngste Mitglied des offensiven Trios, der erst 18 Jahre alte Kylian Mbappé, mit einem Hackentrick eingeleitet hatte. Julian Draxler machte als linker Mittelfeldspieler hinter Neymar sein bisher mit Abstand bestes Spiel für PSG, wirbelte zwischen den Linien und traf dann auch per Volley zum 5:1. Bordeaux, muss man dazu wissen, war bis dahin noch ungeschlagen gewesen.

Neymar und Cavani wechseln sich künftig ab

Nach acht Runden weist PSG als Tabellenführer eine Tordifferenz von plus 22 aus. Das gab es zuletzt in einer Zeit, da Stade Reims noch eine Größe war: 1952. Und wenn nicht alles täuscht, ist bei PSG jetzt auch die leidige Frage geklärt, wer die Elfmeter treten soll. Gegen Bordeaux trat Neymar. Er legte sich den Ball hin, machte sein übliches Verzögerungstänzchen vor dem Schuss, traf und ließ sich dann von Cavani abklatschen. Das "Penalty-Gate" ist passé. Sie werden sich künftig abwechseln, nächstes Mal ist wieder der Matador dran. Die Regelung gereicht offenbar zur Harmonie, die Rivalen scheinen sich auch persönlich gefunden zu haben, und das sollte die Konkurrenz einigermaßen beunruhigen.

Die Zeitung Le Parisien schreibt: "PSG ist zu stark für die Ligue 1." Ein Satz wie eine Sentenz.

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