Die Nachricht, dass Frank Baumann am 1. Juni den Posten des Sportvorstands beim FC Schalke 04 übernimmt, erstaunte den Leitartikler des Fußballfachmagazins Kicker so sehr, dass er Anleihen beim großen Fantastologen Erich von Däniken nahm. Die Liaison habe „den Überraschungseffekt einer bemannten Ufo-Landung“, schrieb er.
Und tatsächlich stand der langjährige Sportchef von Werder Bremen, als ob ihn ein Luftschiff dort abgesetzt hätte, auf einer Plattform über den Dächern Gelsenkirchens, während er seinem neuen Klub das Einstandsinterview gab. Fern im Hintergrund glitzerte im Sonnenlicht die Arena, die vor 25 Jahren sein Vorgänger Rudi Assauer in das Brachgelände Berger Feld hatte setzen lassen. Auch Assauer war einst – A.D. 1981 – vom SV Werder nach Schalke gekommen, und im Vergleich mit dem gloriosen Ruhrpott-Baron Assauer mag einem der aus Überzeugung unauffällige Main-Franke Baumann wirklich wie der Angehörige einer anderen Spezies erscheinen.
Baumann ist in Würzburg zur Welt gekommen und hat vor dem Umzug in den Norden beim 1. FC Nürnberg gespielt, der wie Schalke 04 den inzwischen zwiespältigen Ehrentitel „Altmeister“ trägt und dessen Fans in Gelsenkirchen als Freunde und Leidensgenossen zugleich empfangen werden. Dennoch bedurfte es kreativer Fantasie, um auf die Idee zu kommen, der stille und bedächtige Baumann könne Interesse daran haben, dem Schalker Tingeltangel-Betrieb beizutreten. Vielleicht kam deshalb nicht mal gerüchteweise ans Licht, dass er der heißeste Aspirant auf den vor fünf Monaten ausgelobten Vorstandsjob war – wer hielt den ewigen Bremer als Kandidaten für denkbar?
Während in den Medien über Anwärter wie Jörg Schmadtke oder Jonas Boldt spekuliert oder der angeblich unergiebige Auswahlprozess bemängelt wurde, hatte Baumann längst ausführlich mit den Kluboberen gesprochen und sich mit den sportlichen Führungskräften Youri Mulder (Direktor Profifußball) und Ben Manga (Direktor Kaderplanung) auf gute Zusammenarbeit verständigt. Dass darüber nichts rauskam, darauf sind die Schalker Funktionäre stolz. Und auch Baumann weiß die Vertraulichkeit, wie er ihnen gegenüber hervorhob, zu schätzen. Vermutlich hat es ihn überrascht, dass das auf Schalke überhaupt möglich ist.
Seit Horst Heldt hat es keiner mehr lange ausgehalten. Und keiner weiß, wer an wem gescheitert ist: der Klub an seinen Sportchefs oder umgekehrt.
Die Königsblauen starten im Sommer also einen sowohl personellen wie organisatorischen Neuanfang – so wie jedes Jahr eigentlich. Ämter und Zuständigkeiten sind zuletzt hin und zurück reformiert worden, aber das ist letztlich einerlei: Unabhängig von der Postenbezeichnung hat es seit dem Abschied von Horst Heldt 2016 kein sportlich Verantwortlicher allzu lang ausgehalten am Ernst-Kuzorra-Weg. Jochen Schneider, Michael Reschke, Rouven Schröder, Peter Knäbel, André Hechelmann, Marc Wilmots – keiner weiß, wer an wem gescheitert ist: der Klub an seinen Sportchefs oder umgekehrt.
Zumindest im Fall von Heldts Nachfolger Christian Heidel gibt es handfeste Indizien für Schuldigkeit. Für Heidels Transfervergehen Sebastian Rudy, den er teuer anschaffte, als Angela Merkel noch in der Blüte ihrer Kanzlerschaft stand – im Sommer 2018 –, bezahlte Schalke bis ins vorige Jahr Raten an den FC Bayern. Während der Verein immer noch an den Kosten trug, wurde über Rudy längst schon nicht mehr als Profi berichtet, sondern als Teilnehmer am Zillertaler Steinbockmarsch oder als Freizeitkicker bei der SpG Dilsberg/Bammental in der Kreisklasse A Heidelberg.

Baumann erklärte in dem Interview über den Dächern der Stadt, er gehe seine Aufgabe beim Zweitligisten mit doppeltem Respekt an: Respekt vor dem Verein mit seinem verrückten, treuen Publikum; „und Respekt vor den Herausforderungen, die vor uns liegen“. Die sind aus finanziellen Gründen erheblich: Außer Spielern und Funktionären, die längst weg sind, muss der Klub weitere Corona-Darlehen ablösen und mit Extra-Einnahmen Auflagen der DFL erfüllen. Torjäger Moussa Sylla und Verteidigertalent Taylan Bulut – neben dem Kapitän Kenan Karaman die wenigen verlässlichen Lichtblicke der Saison – müssen deswegen wohl verkauft werden. Konstanz in der Kaderentwicklung kann es so kaum geben, und dennoch wird von Mulder und Manga und künftig nun auch von Baumann erwartet, dass im nächsten Jahr nicht mehr Abstiegs-, sondern Aufstiegskampf auf dem Programm steht.
Den Schrumpfungsprozess nach zwei Jahren zweiter Liga hat Schalke allerdings verinnerlicht. Wie sich die Ansprüche den realen Möglichkeiten angepasst haben, gab in der vorigen Woche die Begeisterung für den ersten Sommer-Transfer zu erkennen. Verteidiger Timo Becker, 28, kehrt von Holstein Kiel zum FC Schalke zurück, wo er 2019 erstmals einen Profivertrag unterschrieben hatte. Damals war Becker dem Verein dankbar für die Anerkennung, obwohl er im Kader ungefähr die Nummer 22 war und in Wahrheit vor allem aus formellen Gründen einen Vertrag erhalten hatte. Jetzt ist der Verein Becker dankbar, dass er die erste Liga verlässt, um in der zweiten Liga mitzuhelfen.
Baumanns Bewertung ist auf Schalke schon jetzt gefragt, etwa in der Trainerfrage
Erst am 1. Juni wird Frank Baumann offiziell die Arbeit aufnehmen. Doch er wird bis dahin nicht in die Urlaubsklausur gehen können, seine Meinung ist schon jetzt gefragt. Nicht nur bei den Spielern, die ins Haus kommen sollen, sondern auch in der Bewertung des Cheftrainers. Da hat Baumann nun das letzte Wort. Kees van Wonderen ist zwar sehr beliebt, sein Ertrag als Fußballlehrer ist jedoch diskutabel. Keine einfache Ausgangslage für den neuen Boss: Vor dem ersten Arbeitstag einen Trainerrausschmiss zu veranlassen, ist ebenso unangenehm wie die Vorstellung, im Herbst dazu genötigt zu werden.