Süddeutsche Zeitung

Francesco Totti:Abschied von König Checco

  • Nach 24 Jahren, 785 Einsätzen und 307 Toren für AS Rom beendet Francesco Totti seine Karriere.
  • Totti gab den Ton an: im Verein, in der Politik und in Rom.
  • Sein Abschied mag für Team und Trainer eine Befreiung sein, für ihn selbst und die Fans ist er ein Schock.

Von Birgit Schönau, Rom

Er geht - und Rom versinkt in einem Meer von Tränen. Gerade hat es die Blumenhändlerin auf der Piazza Vittorio erwischt, eine dralle, strohblond gebleichte Matrone, die energisch zwei Ingenieure aus Sri Lanka als ihre Handlanger am Stand kommandiert: "Eine Tragödie", haucht sie jetzt und wischt sich die blauen Augen: "Meine Mamma, die Arme, ist 94 und erkennt die eigenen Enkel nicht mehr. Aber wenn sie Checco im Fernsehen sieht, jauchzt sie immer."

Checco, so nennt das Popolino, das kleine Volk von Rom, seinen größten Sohn, den Tribun von der Porta Metronia. Dort wuchs Francesco Totti im Schatten der von Kaiser Aurelian gebauten Stadtmauer auf, in einem Viertel, wie es römischer nicht sein kann, aus modernen Wohnblocks und antiken Steinen. Checco ist die Abkürzung von Francesco, ein Kosename für Kinder. Die Intellektuellen nennen ihn nur Totti. Sie heulen heimlich. Öffentlich bringt er sie zum Stottern.

"T-T-T-Totti", entfährt es Angelo Bolaffi. Der Philosoph und Politikwissenschaftler sitzt in der Casa di Goethe, einem deutschen Museum am römischen Wohnort des Dichterfürsten. An diesem Abend geht es in den heiligen Kammern der europäischen Hochkultur um das Thema "Von Goethe zu Totti", vom Rednerpult hängt ein Roma-Trikot mit der Kapitänsnummer 10. Totti, das sei für Römer wenn nicht das erste, so doch das zweite Wort in ihrem Leben, behauptet Professor Bolaffi. "Schon ein Säugling kann das herausbringen." M-M-M-Mamma. T-T-T-Totti.

Sogar die Erzrivalen von Lazio verabschieden ihren "Lieblingsfeind"

Als Jorge Bergoglio zum Bischof von Rom gewählt wurde und sich auf dem Petersplatz als Papst Franziskus vorstellte, nannte ihn seine neue Gemeinde spontan "der Zweite". Das war nicht blasphemisch gemeint. Wenn ein Papst stirbt, kommt der nächste, sagt ein römisches Sprichwort, diese Erfahrung hat sich seit zwei Jahrtausenden auf das Ausführlichste bestätigt. Doch wer kommt nach Totti?

Bevor man darüber nachdenken muss, rüstet sich Rom für diesen Sonntag, 28. Mai, 18 Uhr. Dann wird im Stadio Olimpico der Capitano seine letzte Vorstellung geben, nach 24 Jahren, 785 Einsätzen und 307 Toren für seinen allein seligmachenden Verein, AS Roma. Das Stadion ist ausverkauft, alle werden Totti-Trikots tragen, vermutlich auch gegnerische Fans vom CFC Genua. Sogar die Unaussprechlichen vom Erzrivalen Lazio verabschieden sich auf rührseligen Spruchbändern von ihrem "Lieblingsfeind". Ob in Pescara, Verona oder Turin, wo Juventus gerade schon wieder Meister geworden ist: Diese Tage, seine letzten als Fußballer, gehören nur Francesco Totti. In Rom, wo doch eigentlich die Weltgeschichte so träge, aber unaufhaltsam fließt wie der Tiber, wirkt es so, als stünde plötzlich die Zeit still. Um sich zu teilen in vor Totti und nach Totti.

Sich hier bemerkbar zu machen, gar erinnerungswürdig zu werden, das schaffen nur die wenigsten, die Konkurrenz ist einfach zu groß. Dieser Fußballer aber hat es geschafft, dabei hat Totti gar nicht viel gewonnen: zwei Pokale und einen einzigen Meistertitel mit AS 2001, und, na gut, auch noch die WM 2006, was aber in Rom nie ganz so wichtig war. Gleich nach dem Finale von Berlin verließ Francesco Totti die Nationalmannschaft mit der Begründung, er wolle sich ganz seinem Verein widmen.

Da war er 30, gehörte zu den größten Talenten seiner Zeit, wurde von den besten und reichsten Klubs umworben. Doch Totti wollte lieber ein König in Rom bleiben, als ein Vasall in Madrid werden. Woanders hätten sie ihm vielleicht zugejubelt. Zu Hause aber beteten sie ihn an.

Eine ganze Generation von Römern ist mit Totti aufgewachsen, für sie ist er eine Vaterfigur, für ihre Eltern Er Pupone, das Riesenbaby. Für alle gilt, dass man über Totti nicht diskutiert. Man liebt ihn - und basta. Das musste im vorigen Jahr auch das US-amerikanische Klubmanagement der Roma erfahren, das sich zunächst weigerte, den Vertrag des knapp 40 Jahre alten Kapitäns noch einmal zu verlängern. Totti beklagte sich öffentlich, und schon brach ein Sturm los, ein Volksaufstand drohte. Präsident James Pallotta musste zurückrudern, um nicht ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie weiland der unglückselige Däne Cristian Poulsen. Jener war einst im Eifer des Gefechts während eines Länderspiels von Totti bespuckt worden.

Umgehend erklärte Rom ihn zur persona non grata: Unfassbar, den Capitano derart zu reizen! Totti selbst stiftete sein Sündertrikot aus Italien-Dänemark mitsamt blumiger Entschuldigung an die Muttergottes der Wallfahrtskirche Madonna del Divino Amore. Dort, unweit der Via Appia Antica, hängt die Reliquie noch hinter Glas - und die Römer pilgern hin.

Für Götter gelten keine Fairness-Regeln. Dass Totti die Grenzen zwischen Heiligem und Profanen genauso selbstverständlich tänzelnd überschritt wie die Linie des gegnerischen Strafraums, beweist sein Charisma. Lange Zeit war der Roma-Kapitän nicht nur der mächtigste Mann im Klub, der über Sein und Nichtsein von Kollegen und Trainern den Daumen hob oder senkte. Totti gab generell den Ton an.

Seine Frau zählt die Nudeln, damit Totti nicht zu dick wird

Politiker aller Couleur eilten zu ihm, in der vergeblichen Hoffnung auf Segen von oben. Silvio Berlusconi, damals noch italienischer Regierungschef und Besitzer des AC Mailand, brachte ihm Blumen ans Krankenbett, ebenso die Linke. Totti empfing alle und machte sich mit keinem gemein. Dass an ihm niemand vorbeikommt, musste zuletzt die Fünfsternbewegung erfahren, die gerade versucht, die Stadt zu regieren. Die Olympia-Bewerbung hatten die Cinque Stelle gestoppt, nun wollten sie auch den Stadionneubau der Roma abblasen. Ein Wort von Totti genügte, und die Neuen auf dem Kapitol gaben klein bei.

Die Politik wird in dieser Stadt so viel geringer geschätzt als die Künste. Und wer ist der größte Künstler, wenn nicht ein Mann, dessen Spiel über Jahrzehnte alle in den Bann zog, ob Blumenhändlerin oder Professor, Müllmann oder Kardinal? Der beste Poet des Jahres ist immer der Torschützenkönig, hat Pier Paolo Pasolini mal gesagt, der selbst täglich Fußball spielte und gern ins Olympiastadion ging, zum "letzten Mysterienspiel unserer Zeit". Über den Fußball schrieb Pasolini: "Sein Spektakel hat das Theater abgelöst, denn nur im Theater existiert eine Beziehung zwischen Zuschauern und Darstellern aus Fleisch und Blut."

Zwischen Totti und seiner Stadt lief eine Verzauberung. Er ist ein begnadeter Darsteller, schlagfertig und selbstironisch, plebejisch und gleichzeitig voller Grandezza wie jenes Weltdorf, das ihn hervorgebracht hat. Totti kultiviert seinen vernuschelten, römischen Dialekt, er erzählt gern, dass er Tankwart geworden wäre, wenn das mit dem Fußball nicht geklappt hätte und dass ihm seine Frau zu Hause die Nudeln abzählt, damit er nicht zu dick wird.

Das Idol als Pantoffelheld, ein Evergreen seit Cäsar und Kleopatra. Dass er auf die Journalistenfrage: "Was halten Sie vom Lebensmotto carpe diem?" geantwortet habe: "Ich spreche kein Englisch", verbreitete Totti selbst, genau wie drei Bücher mit Witzen über seine Person.

Vor allem aber konnte er als klassische Nummer 10 mit dem Ball machen, was er wollte, und damit die uralte Lust an einem spettacolo nähren, das nicht nur Sport ist, sondern auch die Kunst der Inszenierung. Hingeschlenzte Strafstöße gehörten dazu, Löffel-Elfmeter und Tausende geniale, präzise gestrichene Pässe.

Im einzigen von Johann Wolfgang Goethe überlieferten Sportbericht geht es um ein Faustballmatch in Verona am 16. September 1786. Goethe vergleicht die Spieler mit antiken Statuen, einer erinnert ihn gar an den Borghesischen Fechter, eine um 100 v. Chr. geschaffene Marmorfigur, die sich heute im Louvre befindet. Der deutsche Dichter vollzog damit eine Assoziation, die in Rom bis heute selbstverständlich ist: Der Fußball wird als Fortsetzung antiker Traditionen begriffen und erlaubt auf diese Weise der bestürzend schönen, aber heruntergekommenen, von Bedeutungslosigkeit bedrohten Stadt regelmäßige Zeitreisen in ihre glorreichste Epoche.

Nicht von ungefähr fand die längst legendäre Meisterfeier der Roma als größtes Volksfest seit den antiken Triumphzügen im Circus Maximus statt. Und auch nicht zufällig trägt Totti auf seinem rechten Arm ein Gladiatoren-Tattoo. Zu seinem Einmarsch auf den Platz ertönte die Titelmusik aus dem Kinofilm "Der Gladiator". Im Mai 2010 traf Francesco Totti den Hauptdarsteller Russell Crowe im Kolosseum. Roms berühmtestes Bauwerk und Touristenziel wurde dafür leer geräumt und geschlossen. Die Kunst der Inszenierung.

Bis zuletzt mochte er seinen Rücktritt nicht bestätigen

Seine Hochzeit feierte Totti in der Kirche Aracoeli, dem mittelalterlichen Versammlungsort der römischen Granden, die sich auf den Trümmern des Juno-Tempels auf dem Kapitol erhebt. An selber Stelle war Petrarca zum Poeten gekrönt und später der Sieg in der Seeschlacht von Lepanto gefeiert worden. Sicher, in Rom gibt es jede Menge alter Steine. Doch kaum jemand wusste sich in dieser einzigartigen Kulisse zu bewegen wie Francesco Totti, der doch weitab von Stadt und Fans in einer festungsähnlichen Villa lebt, weil für ihn die Straßen und Plätze der Altstadt gefährlich wären: zu viel Liebe. Jeder Auftritt löste eine Massenhysterie aus.

Das dürfte vorbei sein, sogar schon bald. In seinem 41. Lebensjahr drohte das Monument Francesco Totti in seinem eigenen Mythos zu erstarren, was seinen Trainer Luciano Spalletti zu der Klage bewog, er sei für eine lebende Mannschaft zuständig, nicht für die Geschichte eines einzigen Spielers. Von Totti kam dazu kein Kommentar, bis zuletzt mochte er nicht bestätigen, dass er aufhört.

Vermutlich, weil er sich das selbst gar nicht vorstellen kann. Er soll jetzt Manager werden, was ist das schon? Der Abschied des Über-Capitano mag für Team und Trainer eine Befreiung sein. Für ihn selbst und seine Fans ist es ein Schock.

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Quelle:
SZ vom 24.05.2017/anla
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