Bringen Wut und Zorn im Sport Erfolg? Durchaus, sogar in vielen Disziplinen, auch im Wintersport. Natürlich nicht etwa einem Skispringer, der nicht leicht dahinsegeln könnte, mit so viel Wut im Bauch, wie sie Johannes Lochner aus Berchtesgaden zuletzt hatte. Aber der ist ja auch ein Bobfahrer.
Die müssen alles können. Oben zu zweit oder zu viert auf einer glatten Eisbahn mit Spikes über eine Startbahn einen 390 oder einen 650 Kilogramm schweren Zweier- oder Vierer-Bob beschleunigen; dann aus vollem Lauf, ohne sich zu verhaken, ihre über hundert Kilogramm schweren Körper in den Bob hinein falten; und schließlich die Piloten mit viel Fingerspitzengefühl an den Lenkseilen mit mehr als 140 Stundenkilometern die Rinne hinunter donnern, wobei natürlich der Steuermann, in diesem Fall Lochner, nicht Ecken in die Bande fahren darf, denn sonst ist ein Platz auf dem Podest kaum noch möglich.
Das ist das Handwerk und noch verhältnismäßig leicht, im Vergleich zu den psychologischen Wettkämpfen im Schlittensport. Genauer gesagt, der Streit, den seit anderthalb Jahrzehnten die besten deutschen Bobfahrer ausfechten: Johannes Lochner, 34 Jahre alt, aus Berchtesgaden, eher offensiv und aufbrausend – und Francesco Friedrich, auch 34 und aus Pirna, mit eher ruhigem Gemüt und strategisch denkend – zudem: Er hat jetzt auch noch eine menschliche Superkraft, was übertrieben klingt, die aber tatsächlich wirkt.
Sprinter Wulff gelingt auf Anhieb, was ihm in der Leichtathletik verwehrt blieb: ein Weltrekord
Friedrich lächelt gerne weiter, wenn Lochner schon schäumt. Zum Beispiel hat Friedrich schon 16 Gesamtweltcups gewonnen. Lochner aber erst zwei, und er will gerne einen dritten, was aber schwer werden dürfte. Dafür – das kann man so sagen – hat Friedrich gesorgt.
Dass der bayerische Bobfahrer dem Mann aus Sachsen statistisch unterlegen ist, liegt weniger an der Kunst im Eiskanal als daran, dass Lochner sich wohl leichter ablenken lässt. Und vielleicht auch daran, dass er noch vom alten Schlag ist, weshalb ihn Friedrich vor dem Saisonstart etwas aus der Fasson bringen konnte. Denn er hatte Lochners wichtigstem Anschieber Georg Fleischhauer, ziemlich hartnäckig ein unmoralisches Angebot unterbreitet, was Johannes Lochner sofort in Rage versetzte.

Lochner denkt und fühlt noch in traditionelleren Mustern. Er ist, soweit man weiß, grundehrlich. Man räubere nicht in einem anderen Team, vor allem dann nicht, wenn gerade die Saison bevorsteht, das ist seine Ansicht. „Er hat sich einen Schiefer eingezogen, das kriegt er zurück“, polterte Lochner in Richtung Friedrich im Bayerischen Rundfunk und drohte: „Man sollte mich nie ärgern!“ Möglicherweise waren die Bob-Zeiten vor vielen Jahren noch anders gewesen, vielleicht war es damals noch wirklich tabu, ein funktionierendes Team zu sprengen, indem man das zweitwichtigste Mitglied abwarb, so wie es sogar auch im Fußball vielleicht in den Fünfzigern noch war. Den Bayer Lochner macht das durchaus sympathisch, wenn er darauf besteht, dass Friedrich sich „unverschämt“ verhalten habe.
Denn Lochner wirkt auch auf seine Art wie ein ehrlicher alter Freund, wenn er darauf besteht, dass noch dieses alte Gentlemen’s Agreement im Bobsport existiert: Ein echter Sportfreund trainiert mit dem, was er hat. Er bedient sich nicht bei den Gegnern, er kümmert sich zeitig im Frühjahr um sein Team und sorgt mit eigenen Mitteln für Erfolg. Alles andere verstoße, so sieht es der 34-Jährige, gegen eine „stillschweigende Vereinbarung“ zwischen den langjährigen Konkurrenten.
Nun, es gibt viele Menschen, die denken anders als Lochner. Francesco Friedrich vermutlich auch, sie wenden das Adjektiv „unverschämt“ in etwas Positives, wenn man es auseinandernimmt. Nämlich in „nicht verschämt“, mithin: „selbstbewusst“.
Dass dieser sehr alte und interessante, weil mit vielen Aspekten, Technik, Kraft, Fahrgefühl, Dynamik und eben auch mit Finten bestückte Sport nun in die Schlagzeilen des frühen Winters geraten war, lag vielleicht auch daran, dass Friedrich gar kein so großes Interesse hatte an Fleischhauer, weil er neben seiner Crew auch tatsächlich einen Joker hatte, den er längst in der Hinterhand hielt.

Diese Geheimwaffe hat natürlich einen Namen, und so geheim ist sie nicht, dass Lochner nicht von ihr gewusst hätte. Jedoch, Friedrichs Geheimwaffe mit Namen Simon Wulff hätte sich ja noch ein bisschen Zeit lassen können und mehr einarbeiten, schließlich kommt er direkt aus der Leichtathletik, in 10,06 Sekunden über 100 Meter der viertschnellste deutsche Sprinter der Geschichte. Jedoch, als er nun beim ersten Zweierbob-Weltcup der Saison anlief, gelang Wulff sogleich das, was er in der Leichtathletik nicht fertigbrachte: Es waren zwar keine 100 Meter, sondern nur die kurze Eis-Anlaufbahn, aber Weltrekord ist Weltrekord: 0,6 Sekunden.
Simon Wulff hat noch viel vor sich, er muss trotz seines Bewegungstalents noch lernen in der Bahn, denn sein Gegner, der neue Anschieber von Lochner, hat gleichzeitig gewechselt, nämlich Thorsten Margis, der sich praktischerweise nach vielen Jahren von seinem Team-Chef entfremdet hat: von Francesco Friedrich. Somit ist geschehen, was im Sport eigentlich nie passiert: Am Ende sind alle zufrieden, und die Saison kann richtig beginnen.