Formel 1 in Shanghai:Provokationen über Funk

Ferrari pfeift seinen jungen Piloten Charles Leclerc zurück - und schleust Sebastian Vettel dafür vorbei. Für den Deutschen ist der Rückstand jetzt schon enorm.

Von Philipp Schneider, Shanghai/München

Tja, was bleibt denn nun? Die Archivare werden in ein paar Jahrzehnten vor eher kniffligen Aufgaben stehen, wenn Kunden bei ihnen vorstellig werden und ganz genau wissen wollen, wie es damals so zugegangen ist: am 14. April 2019 auf der Rennstrecke von Shanghai. Die Kunden werden sich nicht etwa erkundigen, weil am 14. April 2019 zum ersten oder zum letzten Mal in China gefahren wurde, oder weil sie denken, dass damals vielleicht sogar ein Chinese einen Grand Prix gewonnen haben könnte. Sie werden nachfragen, weil ja damals das 1000. Rennen der Formel 1 gefahren wurde, und bei so einem besonderen Anlass wird man ja wohl den einen oder anderen Knüller erwarten dürfen. Oder etwa nicht?

Um die neugierigen Kunden nicht völlig zu enttäuschen, könnten raffinierte Archivare beispielsweise ein Foto von der Siegerehrung rauskramen und mit dem Finger auf die Gesichter der drei schnellsten Fahrer weisen: Sehen Sie hier! Drei völlig unterschiedliche Bartformen, wie man sie am Ende des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts noch tragen durfte! Auf Platz eins: Lewis Hamilton mit einem Vollbart, liebevoll gestutzt an Schläfe, Kinn und Oberlippe. Auf Platz zwei: Valtteri Bottas mit einem zeitlosen Achttagebart, den in dieser Form auch die Holzfäller in der borealen Nadelwaldzone auf dem Haltitunturi tragen, der höchsten Erhebung Finnlands. Und auf Platz drei: Sebastian Vettel. Mit einem klassischen Schnörres!

Ein gewissenhafter Archivar würde darauf verweisen, dass sich zwar nichts Außergewöhnliches auf der Rennstrecke zugetragen hatte, etwa ein Chinese nicht einmal mitgefahren war. Allerdings gebe es ja einen Mitschnitt des Boxenfunks vom Jubiläumsrennen. Und ein Tonband dieses Funkverkehrs, das der Archivar dann selbstverständlich mit triumphaler Geste hervorkramen würde, oh ja, das habe es in sich.

Die Zuschauer durften der Scuderia Ferrari am Sonntag tatsächlich dankbar sein, dass sie mit ihren Funksprüchen für die einzigen Programmeinlagen bei einem ansonsten sehr drögen und ungewöhnlich ereignisarmen Rennens in China sorgten. Die zwei Mercedes parkten in der ersten Reihe, Bottas vor Hamilton, dahinter standen die Ferraris, Vettel vor Charles Leclerc. Als die Ampeln erloschen, kam Hamilton sehr viel besser aus der Startbox als sein Teamkollege, dem die Reifen ein wenig durchdrehten, er zog noch vor der ersten Kurve an Bottas vorbei und gab die Führung bis zur Zieldurchfahrt nicht mehr her.

Chinese Grand Prix

Ratlos angesichts der Übermacht der Mercedes-Piloten: Sebastian Vettel fährt mit seinem Ferrari schon nach dem dritten Rennen einem gewaltigen Punkterückstand hinterher.

(Foto: Aly Song/Reuters)

Vettel wiederum startete ebenfalls recht flott, wurde allerdings zum Leidtragenden von Bottas' Schlafmützigkeit, dessen Mercedes versperrte ihm nun Weg. Ihn links zu überholen, ergab keinerlei Sinn, weil er dann die erste Kurve auf der Außenseite angefahren hätte. Und rechts versperrte Vettels Teamkollege Leclerc den Weg. Vettel zog also zurück, Leclerc rollte vorbei.

Und damit nahm das Funk-Unheil seinen Lauf. Denn auch Leclerc, der am Ende nur Fünfter wurde, wäre wohl vor Vettel geblieben und hätte das Podium um einen weiteren Barttyp bereichert: den zarten Milchflaum. Aber dann griff die Scuderia ein, pfiff Leclerc zurück, schleuste Vettel an ihm vorbei. Und die Situation in der Formel 1 stellt sich nach drei gefahrenen Rennen wie folgt dar: Es gab drei Doppelsiege von Mercedes, zweimal stand Hamilton ganz oben, einmal Bottas. Für Vettel, der in den vergangenen zwei Jahren in Führung lag nach drei gefahrenen Rennen und trotzdem nicht Weltmeister wurde, sieht es angesichts eines Rückstands von 31 Zählern auf Hamilton jetzt schon sehr düster aus. Zumal die Scuderia nun von einer Debatte erfasst werden wird, auf die sich die tendenziell vettelkritische italienische Presse genüsslich stürzen wird: War es richtig, einen Platztausch der Fahrer anzuordnen?

Und der kam so: Hamilton und Bottas kreisten zeitweise eine Sekunde schneller pro Runde als die Ferraris. Als zehn Runden gefahren waren und der Abstand zwischen Bottas und Leclerc größer und nicht kleiner wurde, forderte der Kommandostand Leclerc erstmals auf, entweder schneller zu fahren oder Vettel vorbeizulassen. In der elften Runde erging schließlich die Ansage: "Let Sebastian by! Let Sebastian by!" Leclerc fügte sich zwar, doch zunächst gab er noch ein paar Widerworte: "But I'm pulling away!", klagte er über Funk, er ziehe Vettel doch davon! Wohlgemerkt: Es waren Widerworte in seinem erst dritten Rennen für die Scuderia.

Als sich abzeichnete, dass sich auch Vettel nach dem Plätzetausch nicht imstande sah, den Rückstand auf Bottas zu verkleinern, da vergnügte sich Leclerc in Runde 13 mit einer subtilen und süffisanten Frage: "Und jetzt?". Die redundante Antwort: "Wir machen unseren Job. Wir bleiben fokussiert. Wir machen unseren Job!" Doch Leclerc, der weiter hinter Vettel rollte, obwohl der sich sogar einmal verbremste, gab über Funk nicht locker. In Runde 15 ließ er die nächste Spitze folgen: "Ich verliere ganz schön viel Zeit. Ich weiß nicht, ob ihr das wissen wollt oder nicht", funkte er. Die Antwort: "Wir diskutieren das gerade."

Vettel rollt hinterher - Schlechtester Start der vergangenen Saison

WM-Stand der Führenden in der Fahrerwertung nach jeweils drei Saisonrennen in der Formel 1 im Vergleich

Punkte 2019

1. Lewis Hamilton (Großbritannien) 68

2. Valtteri Bottas (Finnland) 62

3. Max Verstappen (Niederlande) 39

4. Sebastian Vettel (Heppenheim) 37

Punkte 2018

1. Sebastian Vettel (Heppenheim) 54

2. Lewis Hamilton (Großbritannien)* 45

3. Valtteri Bottas (Finnland) 40

4. Daniel Ricciardo (Australien) 37

Punkte 2017

1. Sebastian Vettel (Heppenheim) 68

2. Lewis Hamilton (Großbritannien)* 61

3. Valtteri Bottas (Finnland) 38

4. Kimi Räikkönen (Finnland) 34

*Lewis Hamilton jeweils Formel-1-Weltmeister am Saisonende

Am Ende der Diskussionen ersann die Scuderia die Idee, eine Konfrontation der Fahrer damit zu verhindern, dass die Taktik gesplittet wurde. Vettel wurde an die Box gerufen, Leclerc fuhr weiter. Erst in Runde 42 begegneten sich die roten Autos auf der Rennstrecke wieder. Mit frischeren Reifen überholte Vettel seinen Teamkollegen locker. Leclerc ließ ihn brav vorbei.

Schon beim Saisonauftakt in Melbourne hätte Leclerc an Vettel vorbeiziehen können, hielt sich aber noch an die Anweisung von Teamchef Mattia Binotto. Im zweiten Rennen in Bahrain fuhr Leclerc Vettel so deutlich davon, dass an eine Stallorder nicht zu denken war. Diesmal war die künstliche Hierarchisierung bei Ferrari nicht mehr ganz so einfach zu erklären.

"Lassen Sie es mich mal so sagen", entgegnete Vettel den Journalisten in Shanghai, er sprach sehr ruhig und sachlich. "In dem Moment, als es passierte, wusste ich, dass diese Fragen kommen würden. Ich weiß nicht, ob ich sie beantworten will. Ich habe ein bisschen etwas gegen die Arbeitsweise, Sie nehmen Teile aus Antworten und stellen sie in ein anderes Licht." Leclerc sagte nach dem Rennen, er müsse, um ein "großes Bild" zu erhalten, sich zunächst mit Vettel und den Ingenieuren unterhalten. "Es muss einen guten Grund geben für die Entscheidung", sagte Leclerc. Womit er zu erkennen gab, dass er den Verdacht hat, dass es vielleicht keinen guten Grund für die Entscheidung gab und diese eher dem teaminternen Respekt vor einem viermaligen Weltmeister geschuldet war. Und Teamchef Binotto? Erklärte mit viel Ruhe, es sei "natürlich schwer für ein Team, so eine Anordnung zu geben". Darüber nachdenken, wie man künftig mit ähnlichen Fälle umgehe, werde man aber nicht. Priorität sei, das Auto schnell zu machen. Und das war die Pointe hinter der Debatte über Sinn oder Unsinn, einen schnellen 21-Jährigen zurückzupfeifen: Wenn der Ferrari so langsam bleibt wie im Jubiläumsrennen, wird weder Vettel Weltmeister noch Leclerc.

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