Formel 1 in Schanghai:Mit Vollgas in die Ära des Autos

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Chinesischer Elan und deutsche Hilfe — warum das erste Rennen der Formel 1 in China viel mehr ist als eine Sportveranstaltung.

Von Kai Strittmatter

"Heiland!", entfährt es Winfried Matter, und er meint das im gut badischen Sinne als Beschwörung äußerster Ehrfurcht und Sprachlosigkeit: Heilands-Land, Heilands-Stadt. Wo Träume über Nacht emporschießen, Wolkenkratzer in einem Jahr und Rennstrecken in nur ein paar Monaten mehr.

Fegen für die Formel 1 in Schanghai. (Foto: Foto: dpa)

Herr Matter stammt aus Bruchsal bei Karlsruhe - "die Autobahn-Baustelle im Verkehrsfunk" -, nun reibt er sich die Augen. Gestern noch fuhr der Chinese Rad, heute schon hütet er sein Auto "wie seinen Augapfel", nun stehen ihm Leute wie Winfried Matter zur Seite, um ihm zu erklären, "dass man auf den vier Rädern auch Rennen fahren kann".

Winfried Matter ist "Motorsport Consultant". Im März 2003 hat er sich abgesetzt aus "Zeitlupenland", wie er seine Heimat nennt, nun ist er in Schanghai und sieht hier, was fast alle Besucher sehen: "extremst enormes" Potenzial. Märchenland. Das auf Hilfe aus dem Ausland wartet.

Auf dem Pfad der Erkenntnis

Es ist nämlich so, erklärt sein Sohn Ingo Matter: "Wir wissen das ja schon: Da fahren welche im Kreis und der Erste hat gewonnen. Das ist ein Stadium, das hier in China erst einmal erreicht werden muss."

Auf dem Pfad zur Erkenntnis wird China nun ein Stück nach vorne geschubst: Am Sonntag schon wird auch dieses Volk wissen, wie das ist, wenn da welche im Kreis fahren, und am Ende hat Michael Schumacher gewonnen. Daran sind wiederum andere Deutsche nicht ganz unbeteiligt: die Leute vom Aachener Büro Tilke, die Chinas erste Formel-1- Strecke entworfen und gebaut haben.

Wenn man sie fragt, wie das denn war, nach Malaysia und nach Bahrain nun fünfeinhalb Kilometer Asphaltband in den Sumpf vor die Tore Schanghais setzen zu dürfen, dann leuchten die Augen: "Hier geht das Herz dessen auf, der baut." Der Architekt Peter Wahl sagt das, Kompagnon des ehemaligen Rennfahrers und Ingenieurs Hermann Tilke, der für all die Strecken verantwortlich zeichnet.

Zuerst waren Schlamm und Sumpf

Zuerst waren da Schlamm und Sumpf. Dann kamen Kilometer von Betonpfählen, 8000 Arbeiter, die "am Stahl rödelten wie Vögelchen auf einem Baum" (Wahl), ein angeblich in ganz Südostasien leergefegter Styropormarkt und eine sich über der Ödnis erhebende, aus den Styroporblöcken modellierte Hügellandschaft.

Nach 16 Monaten schließlich stand da die teuerste Rennstrecke mit der größten Tribüne, die Tilke und Wahl je gebaut hatten: Platz für 200.000 Besucher, mehr hat nur Indianapolis in den USA. "Phantastisch", sagt Wahl. Und dann: "Gigantisch." Und schließlich: "Das ist nur in China machbar, das macht kein anderer."

Vom Flugzeug aus gesehen ähnelt die Strecke dem leicht ausgebeulten Schriftzeichen für "Shang" ("oben"), dem ersten Zeichen in "Schanghai", ("Stadt über dem Meer"). Die Streckenbetreiber klopften an beim Guinness-Buch der Rekorde, man habe das größte Schriftzeichen der Welt zu bieten - die Guinness-Leute hatten kein Interesse, was nun eine wirkliche Überraschung ist: Sonst scheint jeder, der dieser Tage über China, über Schanghai spricht, vom Drang zum Superlativ infiziert.

Dem Berichterstatter von "Formel1.com" läuft es beim Anblick der Strecke "kalt den Rücken hinunter" vor lauter Ehrfurcht, die Chefs der Formel-1-Teams überschlagen sich vor großartigen Weissagungen. Der Große Preis von China werde "neue Standards setzen", erklärt Eddie Jordan; den "Beginn eines neuen Zeitalters" prophezeit Norbert Haug, Sportchef von Mercedes. Uneinigkeit scheint lediglich darüber zu herrschen, ob uns am Sonntag nun "das wichtigste Rennen im Kalender" (BMW-Motorsportdirektor Mario Theissen) oder aber "vielleicht das wichtigste Rennen in der Geschichte des Rennsports" (Norbert Haug) erwartet.

Das sind schon verblüffende Sätze, glaubten doch nicht wenige von uns, die Saison sei gelaufen und Schanghai sei lediglich Fußnote.

Hier also die Aufklärung für all jene, die noch dachten, bei der Formel 1 ginge es um Sport - am Sonntag geht es um viel mehr, nämlich um "China mit seinen 1,3 Milliarden Menschen", so BMW-Mann Theissen.

"Die Formel 1 ist endlich in dem Land, wo Hersteller und Sponsoren glücklich sind, zu sein", erklärt Sophia Claughton, Marketingberaterin für die Betreibergesellschaft Shanghai International Circuit SIC: "Viele glauben, dass sich hier die Zukunft abspielen wird." Im sagenhaften Markt der "Eins-komma-drei-milliarden". Ferrari hat im Sommer schon einen Showroom in Schanghai eröffnet: mit einer Parade von 70 Ferrari und Maserati durch die Straßen der Stadt.

Weder Teams noch Mechaniker noch Fans

Und was treibt die Ausrichter? SIC hat fast 300 Millionen Euro öffentlicher Gelder allein in den Kurs gesteckt - Geld, das die Strecke nach Ansicht von Winfried Matter "nie im Leben wieder einspielen wird". Matter hat die SIC drei Monate lang in Managementfragen beraten. "Die Leute hier überschätzen den Wert der Rennstrecke", sagt er. Der Staatssender CCTV hat schon angekündigt, er werde für die Übertragungsrechte praktisch nichts bezahlen: "Die Kosten sind astronomisch und die Werbeeinnahmen reichen bei weitem nicht aus", zitiert die Pekinger Business Weekly einen CCTV-Redakteur.

Matter findet, China zäume das Pferd von der falschen Seite her auf: "Jeder Sport ist wie eine Pyramide aufgebaut. Im Motorsport ist die Formel 1 die Spitze dieser Pyramide - und in China herrscht darunter absolutes Vakuum."

China hat weder Teams noch Mechaniker noch Fans. Aber macht das etwas? "Es ist völlig egal, ob das Volk die Formel 1 annehmen wird", glaubt zum Beispiel der Pekinger Automobil-Marktforscher Sun Gaoling: "Es geht einzig um die wirtschaftliche Entwicklung Schanghais." Die Stadt will Investoren und Touristen anlocken, also sind die Millionen als Investment in einen gigantischen Werbeclip zu sehen. "Immer größer, immer höher, immer weiter", schwärmt Architekt Peter Wahl: "Das verleiht einer relativ jungen modernen Nation schon sehr viel Energie. Die Chinesen wollen der Welt zeigen, dass sie wer sind."

Schanghai nimmt sein Image bitterernst. Hier sind Taxis mit TV-Apparaten ausgestattet; hier untersagte die Regierung den Leuten unlängst, im Pyjama auf die Straße zu gehen, wie viele das seit Jahrzehnten zu tun pflegen: die Weltstadt in spe schämt sich ein wenig für ihre Bürger.

Nicht alle stimmen ein in den Chor der Jubler. "Schanghais Kader nehmen das Geld des Volkes her, um mit ihrer Macht anzugeben", sagt der Schanghaier Schriftsteller Zhu Dake: "Immer muss es das Teuerste, das Größte, das Protzigste sein. Die Kommunisten sind da nicht anders als die Kaiser früher." Schanghai bereitet die Weltausstellung 2010 vor, es plant das höchste Gebäude der Welt, und es leistet sich als urbanen Witz den Transrapid, den schnellsten Zug der Welt, als Flughafen-Zubringer, der im Niemandsland endet.

Die Chinesische Jugendzeitung kritisierte die Schanghaier Kultur des "Geldverprassens" und fragte, ob die Formel 1 im Noch-immer-Entwicklungsland China nicht eine "Frühgeburt" sei?

Ein Jahreslohn für ein Ticket

Die Mehrzahl der Chinesen mag noch immer bettelarm sein - in Schanghai gibt es mittlerweile viele reiche Leute. Von den 160000 Tickets für Sonntag waren die "Diamant"-Packages für umgerechnet 370 Euro zuallererst ausverkauft - und ausgerechnet auf den Billigtickets für 16 Euro blieb man am Schluss sitzen. "Ein guter Platz kostet so viel, wie eine Bauernfamilie in einem Jahr verdient", merkte der Shanghai Star lakonisch an. "Unsere Preise müssen internationalen Standards entsprechen", verteidigte sich SIC-Chef Mao Xiaohan: "Das gebietet Schanghais Stellung in der Welt."

Schanghai, wir erwähnten es, ist auf Sumpfgelände gebaut. Die Stadt sinkt, der Transrapid sinkt auch schon - Herr Wahl, wann bitte versinkt Ihr schöner Formel-1-Ring? Noch 100 lange Jahre nicht, glaubt der Architekt - "und wenn, dann ist es auch gut so. Dann, so hoffe ich, gräbt ihn in 1000 Jahren eine andere Generation wieder aus und fragt: Was haben die damals eigentlich gemacht?"

© SZ vom 24.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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