Formel 1:Der Pilot, der einen Tankschlauch spazieren fuhr

F1 Grand Prix of Mexico

Hat in einer gefährlichen Branche seine positive Einstellung zum Leben nie verloren: Felipe Massa, der am Sonntag in São Paulo seinen letzten Heim-Grand-Prix fährt.

(Foto: Clive Rose/AFP)
  • Wenn Felipe Massa seine Karriere in der Formel 1 beendet, fährt kein Brasilianer mehr in der Motorsport-Königsklasse.
  • Massa wird nicht als Weltmeister in Erinnerung bleiben, aber dafür, dass er sich nie hat verändern lassen.
  • In den Großen Preis von Brasilien startet er von Rang neun, hier geht es zu allen Ergebnissen der Formel 1.

Von Philipp Schneider

Anfang September, ein schmaler Flur in Norditalien. 20 gelangweilte Männer drängen sich vor einer verschlossenen Türe und warten darauf, dass es endlich losgehen kann. So eine Fahrerbesprechung ist ja eine ganz herrliche Veranstaltung. Das gilt grundsätzlich und nicht nur für die Fahrerbesprechung in Monza. In Monza aber befindet sich der Raum, in dem sich die Fahrer versammeln, um dort das soeben beendete Rennen im Gespräch aufzuarbeiten, gleich neben dem Raum für die Journalisten. Und Journalisten schauen sich wartende Rennfahrer gerne mal ganz genau an.

Eine Gruppe Piloten verhält sich ja soziologisch betrachtet auch nicht anders als eine Schulklasse. Die Rollenverteilung ist ähnlich. Irgendwo steht ein Clown, in der Formel 1 ist das Daniel Ricciardo, er macht Witze wie ein Getriebener, ein paar sind ganz gut. Neben einer Topfpflanze lehnt der Introvertierte, er sieht sehr nachdenklich aus, in diesem Jahr und vor allem in Monza ist das Sebastian Vettel. Etwas abseits steht der Ungeliebte, einer, mit dem irgendwie keiner reden möchte, oder der vielleicht selbst mit niemandem reden möchte, Fernando Alonso ist halt speziell.

Und dann ist da noch einer, dessen Körper immer in Bewegung ist, der von einem zum anderen geht, der redet und redet, obwohl er ja nur Neunter geworden ist, und wenn man ihn so laufen sieht, mit seinen dicken Bäckchen und den großen, fragenden Augen, dann überkommt einen das dringende Bedürfnis, ihn hochzuheben und womöglich sogar tröstend an sich zu drücken. Diesen Kerl, gegen den beim besten Willen nichts vorzubringen ist, weil er ja mit Ausnahme seiner Reifen nichts und niemanden jemals schlecht behandelt hat und der seine positive Einstellung zum Leben nie verloren hat, obwohl ihm das Schicksal die größten Unverschämtheiten vor das Auto geschmissen hat. Einen Typen, den jede funktionierende Gruppe benötigt. Die Formel 1 wird nun irgendwie ohne den Rennfahrer Felipe Massa funktionieren müssen. Es wird hart werden.

Felipe Massa hat sich seinen Rücktritt gut überlegt. Gut, das hat er schon einmal. Aber diesmal wird es der Mann aus São Paulo wohl durchziehen. Er wird zurücktreten und dann von seinem Rücktritt auch nicht mehr zurücktreten, wie er es im Vorjahr gemacht hat. Als ihn ein Notruf vom Williams-Team erreichte, das ein Cockpit zu besetzten hatte, weil Mercedes spontan Valtteri Bottas abgeworben hatte, nachdem den Stuttgartern wiederum der Weltmeister Nico Rosberg abhanden gekommen war. "Jeder weiß ja, dass ich mich vor einem Jahr schon von der Formel 1 verabschiedet hatte", sagt Massa, "aber nun geht meine Karriere wirklich zu Ende."

Massa schuf Bilder für die Ewigkeit

Vor einem Jahr, bei Massas letztem Abschied, hat es geregnet. In Interlagos, bei Massas Heimrennen. Die Strecke war so nass wie die großen, fragenden Augen des Mannes, der mal wieder in Bewegung war, sich in eine durchtränkte Flagge hüllte und über die Strecke flitzte. Und auch die Menschen auf den Tribünen vergossen nun Tränen. Die große Rennfahrernation, die die Weltmeister Ayrton Senna, Nelson Piquet und Emerson Fittipaldi hervorgebracht hatte und sich in der Formel 1 ansonsten zumindest von Fahrern wie Rubens Barrichello, Nelson Piquet junior, Bruno Senna, Lucas di Grassi und Felipe Nasr vertreten ließ, wird nach Massas Abschied nicht mehr mitfahren. Zum ersten Mal seit 1969. Es geht der letzte Brasilianer.

Es gibt Rennfahrer, die werden so schnell vergessen, wie sie zeitlebens an den Tribünen vorbeisaust sind. Es gibt Rennfahrer, an die man sich lange erinnert, weil sie erfolgreich waren. Und es gibt Felipe Massa. Einen Fahrer, dessen Pokalsammlung zwar in ein kniehohes Eckschränkchen passt, der aber trotzdem Erinnerungen schuf, die in jedes Formel-1-Museum gehören. Bilder für die Ewigkeit.

Eines dieser Fotos datiert vom September 2008. Massa sitzt in seinem Ferrari, den er ausgangs der Boxengasse in Singapur zum Stehen gebracht hat. Er öffnet sein Visier und schaut in den Rückspiegel, in dem er einen dieser Tankstutzen erblickt, die eigentlich an eine Zapfsäule gehören. Einen Tankstutzen, der jedenfalls nicht mit abgerissenem Schlauch noch in einem Auto stecken sollte, das zu früh losgerollt war, weil einer der Techniker das Signal gegeben hatte, dass es schon losgehen könnte. Es ist ein Moment voller Tragikomik, in dem Technik und menschliches Versagen auf wunderbare Weise eine humoristische Symbiose eingehen. Auf dem Foto sieht der unschuldige Massa aus wie ein ertappter und von der Polizei gestellter Benzindieb an der Tankstelle.

Wie einst Schalke 04

Massa wird nicht als Weltmeister in Erinnerung bleiben. Warum auch? Weltmeister gibt es viele. Massa ist dafür der einzige Fahrer, der sich fälschlicherweise für einen Meister hielt. Für 30 Sekunden. Er ist sozusagen der FC Schalke der Formel 1. 2008 feierte Massa sechs seiner insgesamt elf Grand-Prix-Siege - und er sorgte für das spannendste WM-Finale der Geschichte. Mit sieben Punkten Vorsprung auf Massa reiste damals ein Emporkömmling namens Lewis Hamilton zum letzten Rennen nach São Paulo. Massa hatte keine Chance mehr, aber er gab noch mal alles und wurde Erster. Den Titel verpasste er nur, weil Hamilton in der letzten Runde noch Timo Glock überholte, der sich auf Trockenreifen über die nasse Strecke von Interlagos quälte. Hamilton wurde Fünfter, gewann seine erste Weltmeisterschaft. Mit nur einem Punkt Vorsprung vor Massa.

Es gibt Leute, die glauben, dass diese Niederlage den Rennfahrer Massa verändert hat. Dieser Moment, der den ewigen Wasserträger, der 2006 nach seinem Wechsel zu Ferrari bei Michael Schumacher in die Lehre gegangen war, zu einem Champion hätte machen können. Andere sagen, dass es der fürchterliche Unfall war, den er ein Jahr später in Ungarn erlebte. Ausgerechnet am Auto seines Freundes Barrichello löste sich eine 800 Gramm schwere Feder und prallte gegen Massas Kopf, der mit Tempo 240 herangesaust kam. Die Feder schlug eine Delle in den Helm und Massas Stirn. Eine Not-OP rettete sein Leben. Ein Jahr später kehrte Massa auf die Strecke zurück - und traf sich mit dem Unfallverursacher Barrichello zu einer Partie Poker. "Ich hab' hier eine Überraschung für dich", soll Massa gesagt haben. Dann hat er den Helm auf den Tisch gestellt und aus großen, fragenden Augen geschaut. "Das hat meinen Abend ruiniert", sagte Barrichello: "Auf einmal verlor ich Geld beim Poker, und er hatte großen Spaß dabei."

In Wahrheit hat sich Felipe Massa in seiner Karriere, die er nach wohl 269 Rennen und elf Siegen beschließen wird, von nichts und niemanden verändern lassen. Es waren die Helme, die sich anpassen mussten. Nach dem Unfall bekamen sie ein stabileres Visier verpasst.

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