Formel 1:"Wie in einem totalitären Regime"

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Dem Vernehmen nach psychisch völlig am Ende nach den Ereignissen des Großen Preises von Abu Dhabi, die Lewis Hamilton laut seinem Teamchef Toto Wolff "nie" verwinden werde. (Foto: Kamran Jebrelli/Reuters)

Vier Tage nach dem umstrittenen Finale in Abu Dhabi gibt Mercedes den Verzicht auf eine Berufung bekannt. Teamchef Toto Wolff übt Fundamentalkritik an der Formel 1 - und bleibt gemeinsam mit Lewis Hamilton der Saison-Abschiedsgala fern.

Von Philipp Schneider, München

Allein das Setting. Nicht brutal, aber brutalistisch. Es ist eine ehrliche Wand sozusagen, reduziert aufs Wesentliche, vor der Toto Wolff nun sitzt, nachdem er vier Tage zuvor am Hafen von Abu Dhabi wortlos verschwand. Eine Wand aus Betonquadern. Rechts und links von seinem Kopf sind sogar zwei Löcher zu sehen, doch offenbar sind sie nur gusstechnisch bedingt. Dazu der passende Aufzug: ein schwarzer Rollkragenpullover. Für eine Sekunde wähnt man sich im Literaturhaus: Jean-Paul Sartre liest aus Dantes Inferno. Und als der Teamchef von Mercedes dann zum ersten Mal seit dem Saisonfinale der Formel 1 öffentlich sein Wort erhebt in diesem dramatischen Ambiente, da lässt sich keine Bild-Wort-Schere heraushören.

"Die Entscheidungen, die in den letzten vier Minuten dieses Rennens getroffen wurden, haben Lewis einen verdienten Weltmeistertitel geraubt", sagt Wolff. "Unterhaltung sollte dem Sport folgen, und es darf keine regelwidrige Entscheidung getroffen werden, nur um die Action aufzupeppen." In den letzten Runden des Rennens habe auch er ein Gefühl der "totalen Wehrlosigkeit" empfunden. "Und ich war noch nie wehrlos, außer als Kind." Angesichts der Entscheidungen von Rennleiter Michael Masi habe er sich gefühlt "wie in einem totalitären Regime".

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Starke Worte sind das. Eine Abrechnung, mit der ein sehr düsterer Wolff am Donnerstag vor einer Webcam Einblicke in seine Gefühlswelt gewährt. Nachdem ja der Titelkampf zwischen Lewis Hamilton und Max Verstappen im letzten Rennen durch eine tatsächlich extrem strittige Entscheidung Masis entschieden worden war.

Ein ordentliches Gericht, glaubt Mercedes, hätte ihnen recht gegeben

Der Rennleiter hatte - seiner Meinung nach - wenige Runden vor Schluss dank des sehr biegsamen Reglements der Formel 1 vor der Wahl gestanden, eine finale Safety-Car-Phase entweder zu beenden oder aufrecht zu erhalten. Um mit dieser Wahl - ob Masi nun wollte oder nicht, und das ist ja das eigentliche Drama - den Titelkampf zu entscheiden.

Indem er das Rennen eine Runde vor Schluss wieder freigab, stellte er die Ampel für den späteren Weltmeister Max Verstappen auf Grün, weil der Niederländer nach dem Wiederstart auf Reifen ins Ziel gleiten konnte, die 40 Runden jünger waren als die von Hamilton. Es war eine Entscheidung, die sie bei Mercedes sofort als regelwidrig erachteten, wie das Team noch am Sonntagabend zu erkennen gab. Indem es ankündigte, eine Revision gegen das Urteil der Sportkommissare zu erwägen, die Masis Entscheidung viereinhalb Stunden nach der Zieldurchfahrt als korrekt eingestuft hatten.

Umso erstaunlicher also, dass Mercedes am Donnerstag bekanntgab, Masis Wirken nicht vor dem Berufungsgericht des Automobil-Weltverbands Fia in Paris zu hinterfragen. Obwohl Wolff sagt: "Ich glaube, wir hatten sehr stichhaltige Argumente. Und wenn man es juristisch betrachtet: Wenn der Fall vor einem ordentlichen Gericht beurteilt würde, dann wäre es fast garantiert, dass wir gewinnen würden."

Ist es dann nicht extrem schädlich für alle Beteiligten, auch für Red Bull und Verstappen, dass Mercedes diese Gerechtigkeit nicht sucht? Bleibt nicht gerade deshalb ein Schatten auf diesem Weltmeistertitel?

Weltmeistertitel mit Glanz - und Schatten? Max Verstappen feiert nach dem Grand Prix von Abu Dhabi seine erste Krönung in der Formel 1. (Foto: Kamran Jebreili/Reuters)

Ja, es bleibe ein Schatten, sagt Wolff. Aber auch wenn er in den vergangenen Tagen in enger Rücksprache mit Hamilton und Mercedes-Konzernchef Ola Källenius "geschwankt" sei in der Frage, so hätten sie sich am Vorabend dazu entschieden, den Fall ruhen zu lassen. Zumindest vor Gericht. Denn die Klage steht ja mündlich weiter im Raum. Nach dieser denkwürdigen Pressekonferenz vor Beton sogar noch wuchtiger als am Sonntag nach dem Finale in Abu Dhabi. Vieles geschah da vielleicht noch in der Emotion. Jetzt ist alles Kalkül.

Wolff sagt, sie seien zu dem Ergebnis gekommen, dass das Fia-Berufungsgericht nicht das richtige Urteil gefällt hätte. "Die Fia ​​darf eigentlich nicht ihre eigenen Hausaufgaben benoten", sagt Wolff. "Es gibt einen Unterschied zwischen recht haben und Gerechtigkeit erlangen." Rumms! Was für eine Fundamentalkritik!

Lewis Hamiltons Gemütsverfassung? Er sei desillusioniert, heißt es

Bei der großen Abschlussgala der Formel 1 am Abend, auf der Verstappen den Pokal überreicht bekam, erschienen weder Wolff noch Hamilton. Der siebenmalige Weltmeister, der für sein Fernbleiben sogar bestraft werden könnte, sei psychisch völlig am Ende, auch das ließ Wolff durchklingen. Er sei "desillusioniert" und werde die Ereignisse des Großen Preises von Abu Dhabi "nie" verwinden. Ja, tatsächlich: nie. Er könne nicht garantieren, ob Hamilton weiterhin in der Formel 1 fahren werde. "Als Rennfahrer wird sein Herz sagen: ,Ich muss weitermachen', weil er auf dem Höhepunkt seines Spiels ist", sagt Wolff. "Aber wir müssen den Schmerz überwinden, der ihm zugefügt wurde."

Der Schmerz, das muss man sich vorstellen, ist offenbar so riesig, dass der Chef des erfolgreichsten Seriengewinner-Teams der Formel-1-Geschichte am Abend nicht erschien, um den nächsten Pokal für die Konstrukteurs-WM in Empfang zu nehmen. Cheftechniker James Allison griff sich an Wolffs Stelle die achte Trophäe nacheinander. Verstappen zeigte auf der Gala Verständnis für Hamiltons Abwesenheit. "Er tut mir nicht leid, aber ich verstehe natürlich, dass es sehr schmerzhaft ist", sagte er.

Nur den Rennleiter auszuwechseln, sagt Wolff, das reiche nicht

Sie werden sich den Verzicht auf die Revision durchaus gut überlegt haben bei Mercedes. Zum Saisonfinale waren sie mit dem Anwalt Paul Harris gereist. Der ist spätestens seit dem vergangenen Jahr einigermaßen bekannt, weil er die erfolgreiche Berufung von Manchester City gegen den Champions-League-Ausschluss durch die Uefa vor dem internationalen Gerichtshof leitete.

Vor dem wesentlich kleineren Gerichtshof am Hafen von Abu Dhabi, der nur aus vier Laienrichtern bestand, haben Wolff und Harris am Sonntag verloren. Obwohl sie wahrlich keine schlechten Argumente auf ihrer Seite hatten. "Die Schwierigkeit in der Situation war, dass die Fia ihr eigenes Vorgehen bewerten musste. Wie der Lehrer, der seine eigenen Noten schreibt", so beschreibt Wolff die Tatsache, dass die Kommissare in Michael Masi quasi über einen Kollegen zu richten hatten: "Wir wussten, dass die Situation von Anfang an kompliziert war, zu einer Entscheidung zu kommen, die vielleicht in unserem Rechtsverständnis korrekt gewesen wäre."

An einem Gespräch mit Masi habe er kein Interesse, sagt Wolff noch. Schließlich habe der die Regeln "im Freestyle gelesen" und Hamilton zurückgelassen wie eine "sitting duck", leichte Beute. Ob er den Rückzug von Masi fordere? Das Problem sei doch viel größer, sagt Wolff. Am Vorabend hatte die Fia bereits öffentlich zugesagt, eine gründliche Untersuchung der Vorfälle in den umstrittenen zwei letzten Runden in Abu Dhabi durchzuführen und "Lehren zu ziehen". Diese Ankündigung dient nun Mercedes angesichts des Rückzugs vor Gericht zur Gesichtswahrung. Wolff sagt: "Es ist nicht nur eine Entscheidung, den Rennleiter zu wechseln, das gesamte System der Entscheidungsfindung muss verbessert werden."

Übrigens, Wolff fand auch viele blumige Worte für Red Bull und Verstappen. "All das hat nichts mit Max zu tun", sagte er. "Er hat diesen Titel verdient." Nur ging das Lob ein bisschen unter im verbalen Bohrlärm, mit dem Wolff vor einer Betonwand die Formel 1 in Trümmer legte.

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