Formel 1:Wie im Sommer

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Ferrari baut seine Wagen auf einen früheren Stand zurück und ist wieder schneller als Mercedes. Nach der verschobenen WM-Entscheidung äußert Sebastian Vettel seine Kritik so deutlich wie selten.

Von Philipp Schneider, Austin

Gitarrenklänge hämmern aus der Garage von Lewis Hamilton, im Hintergrund hebt ein Gospelchor an zu singen. Die Gitarren spielen Cis-Dur, H-Dur, A-Dur, eine der berühmtesten Akkordfolgen der Musikgeschichte: "Gimme Shelter" von den Rolling Stones. Ein Lied mit Wucht wie ein Orkan, eine Art Ende-der-Welt-Song, über den Mick Jagger mal sagte, er sei die wahrhaftige Apokalypse. Zwei Mechaniker stehen neben den Boxen, sie schrauben, zerlegen Hamiltons Auto für den Weitertransport nach Mexiko. Einer steht links, der andere rechts, ein weiterer bespritzt zeitgleich die freigelegte Bremsscheibe mit Öl, er poliert, singt mit. "Oh, a storm is threatning, my very life today!"

Vor der Garage saust ein Gabelstapler vorbei, wirbelt mit den Reifen die Konfettischnipsel in die Luft, die nach der Zieldurchfahrt des Siegers von Kanonen US-amerikanischen - also selbstredend gigantischen - Ausmaßes verschossen worden waren. Überall liegen blaue, weiße und rote Schnipsel herum. Die Flagge der USA als Konfettipuzzle. Verballert nicht für einen Amerikaner. Verballert nicht für einen neuen Weltmeister. Verballert für einen Finnen. Kimi Räikkönen, den Überraschungssieger des Rennens in Austin, Texas. Ausgerechnet Räikkönen, der 39-Jährige aus Espoo, der von der Scuderia Ferrari in der kommenden Saison zum kleinen Team Sauber abgeschoben wird. Zur Einstimmung auf seine Zeit als Formel-1-Rentner. Räikkönen hatte soeben allen Ernstes sein erstes Rennen seit Melbourne 2013 gewonnen. Welch herrliche Pointe, drei Rennen vor dem Ende einer ohnehin schon erstaunlichen Saison in der Formel 1. Und welch schräge, kleine Party der Mechaniker in Hamiltons Garage. Irgendwo mussten sie ihre Energie jetzt lassen, sie hatten ja mit einer riesigen Weltmeisterfeier gerechnet. "Oh yeah", singt Jagger. "I'm gonna fade away!"

Räikkönen saß kurz zuvor auf der Pressekonferenz, zeigte bewährt wenig Mimik. War aber trocken witzig. Seine Kinder, das älteste gerade drei Jahre alt, hätten sich schon vor einer Weile beim Papa erkundigt, wann sie wohl mal eine Pirelli-Mütze mitgebracht bekämen? Eine Kopfbedeckung vom Reifenhersteller gibt es für jeden Rennsieger. "Sie interessieren sich mehr für die Kappe als meinen Sieg", erzählte Räikkönen: "Ich hatte schon überlegt, Kappen zu kaufen. Aber das wäre kein Fairplay gewesen." Seine Familie habe vermutlich gar nicht mitbekommen, wie der Papa gleich nach dem Start an Hamilton vorbeigesaust war. "Sie sind wahrscheinlich während des Rennens eingeschlafen."

Nach 113 Rennen wieder oben auf dem Dienstwagen: Kimi Räikkönen feiert seinen lang ersehnten Sieg in Austin genau elf Jahre nachdem er mit Ferrari Weltmeister wurde. (Foto: Jerry Andre/imago/Motorsport Images)

Die Geschichte des Rennens ist schnell erzählt, Sebastian Vettel dürfte sich noch länger an sie erinnern als Hamilton. Der Engländer war von der Pole Position gestartet und als Dritter ins Ziel gerollt. Vor allem, weil er als einziger Fahrer aus der Spitzengruppe zwei Reifenwechsel vornehmen ließ und nicht nur einen. Und weil er trotzdem viel zu lange auf seinem zweiten Satz Pneus gefahren war. Irgendwann waren diese so durchgefahren, so voller Blasen, dass Hamilton nur noch schleichen konnte. Räikkönen schloss von hinten so dicht auf, dass er vorbeizog, als Hamilton zum zweiten Mal an die Box musste. Und Hamilton ging in der Schlussphase kein zu großes Risiko mehr ein, als er versuchte, den Zweitplatzierten Max Verstappen zu überholen.

Bei Vettel hingegen gingen die Probleme schon am Freitag los. Weil er zu schnell fuhr, als die Stewards im Training rote Flaggen schwenkten, wurde er nach der Qualifikation um drei Positionen strafversetzt. Er startete von Rang fünf, nicht von zwei. Und am Ende der ersten Runde wollte er sich an Daniel Ricciardo im Red Bull vorbeiquetschen, ging dabei zu viel Risiko ein, die Reifen der Autos berührten sich, Vettels Ferrari drehte sich auf der Strecke und fügte sich erst auf Position 15 wieder ein.

Er drehte sich schon wieder. Er drehte sich wie in Suzuka nach einer Berührung mit Verstappen. Er drehte sich wie in Monza nach einer Berührung mit Hamilton. Es ist ja so: Kein Fahrer hat in dieser Saison so oft aus dem Cockpit in die falsche Fahrtrichtung geblickt wie Sebastian Vettel. "Das ist Racing", erzählte der 31-Jährige später, nachdem er sich noch auf den vierten Platz vorgerackert hatte - weswegen die Entscheidung in der Fahrerweltmeisterschaft immerhin um mindestens ein weiteres Rennen vertagt wurde. In Mexiko-Stadt muss Vettel auf jeden Fall gewinnen, sonst ist es vorbei. Wenn Hamilton mindestens Siebter wird, ist es auch so vorbei. "Ich glaube, dass mich Ricciardo in Kurve 13 nicht gesehen hat, was schwierig für ihn war. Ich lenke also ein, so weit es geht, die Räder berühren sich, dann verliere ich das Auto." So sieht das Vettel.

In Austin gab es eine für Ferrari ganz bittere und für Mercedes durchaus interessante Erkenntnis

"Stell dir vor, Sebastian dreht sich nicht in der ersten Runde, dann gewinnt er das Rennen ganz easy" - so sieht das Toto Wolff. Und so darf man das auch sehen. Dazu muss man wissen, dass die Argumentation des Teamchefs von Mercedes seit ein paar Wochen einem ähnlichen Muster folgt: Seit Hamiltons Vorsprung in der Gesamtwertung so riesig ist, dass ihm die Weltmeisterschaft kaum noch zu nehmen ist, erzählt Wolff permanent die Geschichte, dass Mercedes ganz fürchterlich aufpassen muss, damit ihnen niemand mehr die Weltmeisterschaft nimmt. Das mag man für paranoid halten. Andere finden es professionell. Und beim Rennen in Austin war ja tatsächlich eine für die Scuderia ganz bittere und für Mercedes zumindest interessante Erkenntnis zu Tage getreten.

Etwas mehr Mimik nach dem Rennsieg in Austin als sonst: Ferrari-Pilot Kimi Räikkönen. (Foto: Darren Abate/AP)

Der Ferrari war plötzlich wieder schneller als der Mercedes. So schnell wie noch im Sommer. Vettels Mechaniker hatten den Ferrari vor dem USA Grand Prix wieder in eine ähnliche Konfiguration versetzt, mit der er vor dem Rennen in Singapur dem Mercedes überlegen gewesen war. Ehe offenbar die Experten der Scuderia den SF71H mit einigen Modifikationen, die nicht funktionierten, unfreiwillig ausgebremst hatten. Und während Hamilton mit dem völlig verstellten (im Wintersport würde man sagen: völlig verwachsten) Ferrari leichtes Spiel hatte und die Rennen in Singapur, Sotschi und Suzuka gewann, wurde Vettel lediglich zweimal Dritter.

"Manchmal ist ein Schritt zurück ein Fortschritt", klagte Vettel bereits nach der Qualifikation, als ihm dämmerte, dass er auf seiner schnellsten Runde nur 61 Tausendstelsekunden langsamer gewesen war als Hamilton auf seiner. Und nach dem Rennen fand Vettel deutliche Worte. Er äußerte Kritik an seinem Team, die man so von ihm selten bis nie vernommen hatte seit seinem Wechsel zu Ferrari. "Wir müssen jetzt schauen, was auf technischer Seite schief gelaufen ist", sagte Vettel, "wir haben jede Menge Hausaufgaben." Die Scuderia, die ja nun drauf und dran ist, schon im zweiten Jahr nacheinander den Pokal in Mexiko an Mercedes zu verlieren, habe "Potenzial", das schon. "Aber wir müssen immer noch wachsen und dazulernen", findet Vettel: "Es gibt in diesem Winter eine Menge Dinge, die wir hinterfragen müssen. Alle von uns. Mich eingeschlossen."

Für Vettel empfiehlt sich da ein kleiner Winterkurs für fachgerechtes Überholen ohne Pirouette auf der Piste.

© SZ vom 23.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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