Zum Mittelmeer sind es keine zehn Kilometer, oben auf dem Plateau riecht es schon nach der Provence. Der Circuit Paul Ricard vermarktet seine Lage gern für Fahrradtouren in den Sonnenuntergang. Allerdings nur, wenn nicht gerade Formel 1 ist, so wie jetzt. Der Große Preis von Frankreich, der vorerst zum letzten Mal auf dem zwischen Nizza und Marseille gelegenen Kurs ausgetragen werden könnte, markiert den Start in die zweite Saisonhälfte. Viele Protagonisten des Rennzirkus, der in den vergangenen vier Monaten bereits auf vier Kontinenten unterwegs war, sind müde, sie sehnen die in zehn Tagen beginnende Sommerpause herbei. Schläfrigkeit kann sich im rasenden Geschäft niemand leisten, trotzdem aber müssen sich einige der Beteiligten, insbesondere die aus Deutschland, gerade etwas gedulden. Le Castellet, das Wartezimmer des Motorsports.
Es lässt sich etwa spekulieren, ob Rekordweltmeister Lewis Hamilton in dieser Saison zum ersten Mal in seinen 16 Jahren in der Königsklasse ohne Rennsieg bleiben könnte. Mindestens einmal pro Jahr hatte er immer gewonnen. Der Brite fährt am Wochenende seinen 300. Grand Prix, und er hat mit drei dritten Plätzen in Serie zuletzt gezeigt, dass Mercedes vor der Trendwende steht. Ein paar Zehntel nur, hat Teamchef Toto Wolff hochgerechnet, fehlen auf Ferrari und Red Bull Racing. Hamiltons Landsmann Damon Hill hält sogar einen Doppelerfolg der Silberpfeile an diesem Wochenende für möglich und musste sich von seinem Podcast-Gegenüber Gerhard Berger dafür fragen lassen, ob er etwas getrunken habe. Tatsächlich aber macht der Formanstieg des deutsch-britischen Konzernrennstalls einige im Fahrerlager nervös. Ein später Dreikampf im Jahr wird wohl kaum noch den nächsten Titel nach Stuttgart bringen, aber könnte das WM-Rennen entscheidend beeinflussen.
Noch angespannter verläuft das Warten auf das neue Motoren-Reglement der Formel 1. Das tritt zwar erst 2026 in Kraft, aber es ist offenbar immer noch nicht in so trockenen Tüchern, dass der VW-Konzern bekanntgeben kann, welche Marken mit den von synthetischen und biologischen Kraftstoffen befeuerten Rennwagen an den Start gehen. Porsche ist wohl längst soweit, als Motorenlieferant für Red Bull Racing zu dienen, die Connection hätte schon beim letzten Rennen in der Steiermark verkündet werden sollen. Audis Übernahme eines bestehenden Rennstalls hingegen steht mehr denn je in den Sternen. McLaren hat wohl kein Interesse mehr, Aston Martin ist eine vage Option, bliebe der derzeit als Alfa Romeo firmierende Schweizer Sauber-Rennstall. In diesen wirtschaftlichen Zeiten aber stellt sich die Sinn- und Geldfrage auch in Ingolstadt mehr denn je. Auch Audi dürfte zunächst nur Aggregate liefern.
Schon am 29. Juni hätte der Automobilweltverband Fia das neue Reglement absegnen sollen, die deutschen Konzernvertreter wollen sich nicht mit Zusagen hinhalten lassen, sie wollen etwas Schriftliches, um Formel-1-Abteilungen oder Tochterfirmen aufzubauen. Formel-1-Chef Stefano Domenicali, der während seiner Volkswagen-Zeit das Projekt erdachte, hätte Porsche und Audi zur Sicherung des derzeitigen Booms der Rennserie liebend gern an Bord. Plötzlich drängt auch Fia-Präsident Muhammed bin Sulayem zur Eile, die bis auf Kleinigkeiten bereits stehenden technischen Regeln sollen noch im Juli verabschiedet werden, per Fax-Votum des Weltrates. Es geht dem Vernehmen nach noch um Dinge wie Prüfstände und Kolben. Die bereits in der Formel 1 engagierten Motorenhersteller haben die Hängepartie satt. Mercedes-Teamchef Toto Wolff drängt die Neueinsteiger zur Entscheidung: "Wir haben große Schritte auf sie zu gemacht." Unnötig leicht machen will man es der erwartet starken Konkurrenz nicht. Plötzlich drängt die Zeit auch für Red Bull, denn der bisherige Motorenpartner Honda kann sich ein Comeback in dreieinhalb Jahren vorstellen. Aktuell ist der Ausstieg noch beschlossene Sache.
In einer Warteschleife steckt auch Sebastian Vettel. Auch vom Heppenheimer, der mit nur 15 Punkten lediglich auf dem 14. WM-Rang liegt, wird eine Entscheidung über die Zukunft erwartet. Der 35-Jährige, der auch im zweiten Jahr bei Aston Martin noch nicht so richtig in die Gänge gekommen ist, muss sich an seinem Karriere-Leitsatz messen, nicht ewig bloß im Mittelfeld herumfahren zu wollen. Es gehe ihm immer noch um Siege. Sein Rennstall hat - wohl auch mangels Alternativen - längst signalisiert, mit dem Hessen gern noch in mindestens ein weiteres Jahr gehen zu wollen. Vettel wirkte hingegen in Sachen Vertragsverlängerung zuletzt zögerlich, schien mehr Leidenschaft auf seine (umwelt)politischen Aktivitäten zu verwenden. In Le Castellet ist er erstmals deutlicher geworden, was seine späte Karriereplanung angeht: "Ich rede mit dem Team - und es gibt die klare Absicht weiterzumachen." Als Alternative böte sich nur McLaren an, wo mit Andreas Seidl ein Vettel-Kumpel Teamchef ist, dort steht der Australier Daniel Ricciardo mangels Erfolg zur Disposition.
Allein die Tatsache, dass die Gespräche bereits begonnen haben, zeugt von eindeutigen Absichten. An der Spitze des Rennstalls steht ein ehemaliger BMW-Ingenieur, den Vettel von früher kennt: der Luxemburger Mike Krack. Teamchef Lawrence Stroll investiert gewaltig in das Projekt und hat jetzt mit dem Einstieg des saudi-arabischen Staatsfonds seinen Geldfluss gesichert. Ob den Saudis allerdings Vettels Klima-Aktivismus in den Plan passt? Ein Erfolg auf der Rennstrecke könnte bei Vettel schnell Gräben zuschütten.
Ähnlich wie bei Mick Schumacher: Von den 19 Punkten des Haas-Rennstalls in den letzten beiden Rennen hat der 23 Jahre alte Deutsche zwölf geholt. Damit hat Schumacher einen Bann gebrochen, zurück zum Selbstbewusstsein gefunden und sich vom polternden Teamchef Günther Steiner emanzipiert. Das Mentaltraining beim kleinsten Team der Formel 1 ist eine gesunde Härte im Umgang. Schumacher musste dort seinen eigenen Weg finden, und er sieht ihn nach dem sechsten Platz von Österreich auch vor sich: "Wir können hoffentlich noch ein paar mehr Punkte holen." Seine Zukunftsperspektive will er nicht allein von Zählbarem abhängig machen, in der Sommerpause sollen die Vertragsverhandlungen mit dem Schützling der Ferrari-Nachwuchsakademie beginnen. Beide Parteien haben ohnehin wenig Alternativen. Es gibt eine überwölbende Frage, die die Stimmungslage beim Rennen an der Côte d'Azur prägt: Für wen arbeitet die Zeit?