Vettel in der Formel 1:"Sie stehlen uns das Rennen"

F1 Grand Prix of Canada

Stellte kurzerhand die Platzierungsschilder um: Sebastian Vettel nach dem Großen Preis von Kanada.

(Foto: AFP)
  • Sebastian Vettel wird beim Großen Preis von Kanada Zweiter hinter Lewis Hamilton, weil ihn die Rennleitung mit einer Fünf-Sekunden-Zeitstrafe belegt.
  • Vettel ist darüber sehr erbost: "Ich fühle mich als Sieger. Ich bin als erster über die Ziellinie gefahren."
  • Er stellt sogar die Platzierungsschilder nach dem Rennen um.
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Von Philipp Schneider

Die Botschaft, die Sebastian Vettel nun vorkam wie ein zynischer Hieb des Schicksals, ereilte ihn zwölf Runden vor Rennende. Vettel begriff in diesem Moment, dass er eine Fünf-Sekunden-Strafe erhalten würde, das hatten die Rennkommissare soeben entschieden. Vettel führte das Fahrerfeld gerade an beim Großen Preis von Kanada, er war auf dem Weg zu seinem ersten Rennsieg nach 287 Tagen, und hinter ihm rollte Lewis Hamilton, mit exakt 2,7 Sekunden Abstand. Nun waren keine nobelpreiswürdigen Rechenkünste notwendig, um zu ermitteln, wo Vettel nach der Zieldurchfahrt in der Endabrechnung landen würde. Jedenfalls hinter Hamilton. Und so mochte man es Vettel nachsehen, dass er nun zu schimpfen und zu fluchen begann.

Er war ja schon mit 55 Punkten Rückstand auf Hamilton nach Kanada gereist, die Weltmeisterschaft schien ohnehin so gut wie verloren. Und nun erhielt er auch noch eine Strafe von fünf Sekunden. "Ich konnte nirgendwo hin. Ich habe ihn gesehen, aber ich konnte nirgendwo hin", funkte er an seinen Kommandostand. "Where the hell am I supposed to go?" Wo zur Hölle er denn hätte hinfahren sollen, rief Vettel ins Mikro. "Ich hatte Rasen an den Reifen. Sie stehlen uns das Rennen!"

Und so kam es wie es wohl kommen sollte: Die Zuschauer in Montreal sahen, wie Vettel im Ferrari als Erster die Ziellinie überquerte. Und kurz darauf sahen die Zuschauer, wie Lewis Hamilton auf dem Podium auf die oberste Stufe kletterte. Zum ersten Mal seit Lewis Hamilton 2008 in Belgien hatte ein Fahrer den Rennsieg wegen einer Bestrafung der Rennkommissare verloren.

Was war passiert?

Dann, die 48. Runde: ein Fahrfehler

Zwei Drittel dieses Rennens waren gefahren auf der Ile Notre-Dame, als Hamilton formatfüllend in Vettels Rückspiegel auftauchte. Beide Piloten hatten sich harte Reifen aufziehen lassen, aber Hamilton kam mit seinen besser zurecht. Er fuhr schneller, der Rückstand schmolz auf zwei Sekunden. Hamilton kam näher, immer näher. Nur noch acht Zehntel trennten sie. Und Vettel hatte Schwierigkeiten. "Die Zahlen auf deinem Display sind korrekt. Reagiere darauf!", funkte sein Kommandostand. Vettel fuhr nun langsamer. Möglicherweise lief sein Auto heiß, oder er war angehalten, Sprit zu sparen. Dann, die 48. Runde: ein Fahrfehler. In Kurve drei verlor er die Kontrolle über das Heck, kürzte ab über die Wiese. Als er wieder auf die Strecke zurückkehrte, krachte er fast gegen den Mercedes.

Die Rennkommissar untersuchten den Vorfall, kamen zu dem Ergebnis, dass er auf gefährliche Weise auf die Strecke zurückkehrt sei. So sah das auch Hamilton. "So dangerous" sei Vettels Manöver gewesen, funkte er unmittelbar danach. So gefährlich. 17 Runden musste Vettel noch durchhalten, 74 Kilometer, die ihm nun vorkommen mussten wie 1000. Anstatt zu resignieren legte er die schnellste Rennrunde vor. Er gab Gas. Offenbar ahnte er wirklich nicht, dass er noch bestraft werden würde.

Die Strafe mochte hart gewesen sein. Aber sie war nachvollziehbar. Und es war auch so: Vettel hatte einen Fahrfehler begangen. Deshalb war er überhaupt über den Rasen gerollt. "Natürlich willst du so nicht gewinnen", erklärte Hamilton nach dem Rennen, als er eines dieser Blitzinterviews gab, zu denen Vettel gar nicht erst erschie:. "Aber ich habe ihn in den Fehler gezwungen. Deshalb ist er durchs Gras gefahren." Er habe noch versucht, sagte Hamilton, Vettel auch physisch auf der Strecke zu überholen. Nicht nur rechnerisch.

Nach diesem Rennen in Montreal entlud sich Vettels Frust, der sich im Laufe der für die Scuderia so enttäuschenden Saison aufgebaut hatte. Vettel, der seinen Rennwagen gar nicht im dafür vorgesehenen Areal des Kurses abstellte, griff sich auf dem Weg zur Siegerehrung die Ziffer "2", die eigentlich für sein Auto vorgesehen war - und stellte sie anstelle der "1" vor das Siegerauto von Hamilton. Auf der Tribüne bejubelten die Ferrari-Fans Vettels Schilderstreich. Für einen Moment trat wieder jene Seite von Vettel zutage, die er immer mal wieder gezeigt hat in seiner Karriere. Die eines Fahrers, dem das Verlieren nicht immer leichtfällt. Der sich auch schon mal treiben lässt. Der vor zwei Jahren in Baku Hamilton in die Seite gefahren war, während einer Safety-Car-Phase. Vettel, der Bauchpilot, dessen größte Stärke und zugleich größte Schwäche seine Emotionen sind.

"Man sollte die Leute fragen, was sie denken", sagte Vettel später. Aber die Leute sollten bitteschön aufhören, Hamilton auszupfeifen. Er sei schließlich nicht derjenige gewesen, der diese Entscheidung getroffen habe. Hamilton blieb bei seiner Sicht der Dinge: "Ich habe die Kurve ganz normal genommen. Normalerweise musst du doch gucken, dass du auf sichere Weise auf die Strecke zurückkehrst."

Vettel fühlt sich als Sieger, nicht als Zweiter

Ach, was hatten die Ereignisse des Vortages Vettel noch gutgetan. Zum ersten Mal seit Juli 2018 in Hockenheim hatte er sich auf die Pole Position geschoben, nachdem er in seiner letzten Runde 0,206 Sekunden schneller auf der Ile Notre-Dame gekreist war als Lewis Hamilton. Vettel hatte vor Freude in sein Helmmikrofon gejodelt, wie man es schon lange nicht mehr von ihm gehört hatte.

Der Erfolg kam nicht ganz unerwartet. Auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke in Montreal, das ahnte man schon seit Wochen, würde die Scuderia konkurrenzfähiger sein als auf vielen der vergangenen sechs Strecken dieses Jahres, auf den Mercedes immer gewonnen hatte. Der Anteil der langen Geraden ist hoch. Das kommt den Stärken der Ferrari, die sich in langsamen Kurven in diesem Jahr um die Ecken quälen, entgegen. "Wir wussten, dass wir von einer Motorenstrecke wie dieser profitieren würden. Trotzdem hat uns die Pole überrascht", sagte Ferrari-Teamchef Mattia Binotto. Er war am Samstag blendend gelaunt und lachte viel. Das heißt bei Binotto allerdings nicht viel. Er lacht auch nach Niederlagen unheimlich gerne. Binotto ist so etwas wie der Wallace Henry Hartley der Formel 1. Der Orchesterchef der Titanic soll seine Geige bekanntlich auch nach der Kollision mit dem Eisberg noch mit so viel Hingabe gespielt haben, dass es die Menschen, die in diesem Augenblick die in nicht ausreichender Zahl zur Verfügung stehenden Beiboote bestiegen, gar nicht fassen konnten.

Bei Vettel verhält es sich anders. Niederlagen nerven ihn. Und diese Genervtheit lässt er sich auch ansehen. Mit der einen schnellen Runde in Montreal entschädigte sich Vettel für all die Rückschläge, die er mit seinem Team in diesem Jahr hatte hinnehmen müssen. Sie wurde ihm nicht von der Kraft seines Ferrari geschenkt. Er riss sie an sich mit Gewalt. Er steigerte sich Kurve zu Kurve, fuhr immer schneller, fuhr schließlich so schnell wie kein anderer. "Ich habe mich in den ersten zwei Kurven etwas eingebremst, um auf die Reifen aufzupassen", erzählte er danach, "dann flog das Auto. Es hat mir zugerufen: weiter so, weiter so." Der Ferrari alleine genügte nicht für die Pole Position. Charles Leclerc, Vettels Teamkollege, war langsamer als Hamilton und parkte am Sonntag auf Platz drei - vor Daniel Ricciardo im Renault.

"Wir wechseln auf Plan B", funkt der Kommandostand der Scuderia

Hamilton hatte angedeutet, den Überholversuch gleich vor der ersten Kurve zu starten. Die Anfahrt zur ersten Kurve ist die kürzeste in der Formel 1, noch kürzer als in Monte Carlo: 159 Meter sind es nur von der Pole Position bis zur Biegung. "Wenn wir beim Start vorne sind, müssen wir unseren Vorteil auf den Geraden ausspielen und gut auf die Reifen aufpassen", sagte Vettel. So sah es auch Hamilton: "Der Weg zur ersten Kurve ist kurz. Wenn ich es da nicht schaffe, wird es bei dem Top-Speed der Ferrari schwer für mich." Die Ampeln gingen aus - und viel passierte zunächst nicht. Vettel rettete sich vor Hamilton in die erste Kurve, Leclerc behauptete sich vor Daniel Ricciardo. Nur Valtteri Bottas im zweiten Mercedes fiel zurück auf Rang sieben, nachdem ihn Nico Hülkenberg überholt hatte.

Die zwei Ferraris und beide Mercedes rollten auf Medium-Reifen, der mittelharten Reifenmischung. Ricciardo dagegen auf den weichen, weniger haltbaren Reifen, mit denen er sich beim Start einen Vorteil erhofft hatte. Doch für Vettel lief alles nach Plan in Kanada. Nach vier Umdrehungen betrug sein Vorsprung auf Hamilton 1,8 Sekunden, und er legte die schnellste Runde vor.

Ricciardo kam als erster Fahrer aus der Spitze an die Box und wechselte von weichen Reifen auf die härteste Mischung. Lando Norris hatte ein merkwürdiges Problem an seinem McLaren. Das rechte Hinterrad stand plötzlich schief, offenbar war die Aufhängung gebrochen, ohne dass Norris einen sichtbaren Fahrfehler begangen hätte. Nach 13 Runden hatte Vettel einen Vorsprung von 2,4 Sekunden auf Hamilton herausgefahren. Hinter ihm folgten Leclerc und - 12 Sekunden dahinter - Nico Hülkenberg im zweiten Renault. Der Deutsche hielt nach 17 Runden an und holte sich ebenfalls härtere Reifen, nun war Bottas vorübergehend Vierter. Der zweite Mercedes kreiste nur 21,5 Sekunden hinter Vettel, was für Ferrari bedeutete, dass ein Boxenstopp noch nicht in Frage kam. Mussten die Italiener doch sicherstellen, dass Vettel garantiert wieder vor Bottas auf die Strecke zurückkehren würde, damit dieser ihn nicht würde ausbremsen können.

"Wir wechseln auf Plan B", funkte der Kommandostand der Scuderia an seine Fahrer. Und sehr bald wurde klar, was der bedeutete. Nach 26 von 70 Runden ließ sich Vettel frische Gummis aufziehen, er sortierte sich als Dritter vor Bottas ein. "Lewis, it's hammertime", funkte der Kommandostand von Mercedes an Hamilton. Er sollte nun Gas geben, um sich so weit abzusetzen an der Spitze, dass er die Führung nach einem Stopp würde halten können. Seine Reifen seien "pretty cooked", antwortete Hamilton, also ziemlich durch. Der Plan ging diesmal nicht auf. Denn Vettel machte auf seinen Reifen noch mehr Tempo und konterte den Mercedes-Plan sogleich mit einer schnellsten Rennrunde. Hamilton gab auf, rollte an seine Versorgungsstation und sortierte sich brav hinter Vettel wieder ein. Nach 33 Runden kam auch Leclerc an die Box, und ehe er auf die Strecke zurückkehrte, fuhr Max Verstappen an ihm vorbei. Vettel führte nun also vor Hamilton, Verstappen, Leclerc - und Ricciardo, der sich ein paar Runden vor Bottas halten konnte.

Es folgten Vettels Fehler, der Beinahe-Crash mit Hamilton, der Beschluss der Rennleitung. "Ich fühle mich als Sieger", sagte Vettel eine halbe Stunde nach Rennende: "Ich bin als erster über die Ziellinie gefahren." Ob er es bereue, das Sieger-Schild von Hamiltons Auto entfernt zu haben? Wieso, fragte Vettel: "Damit habe ich doch niemandem geschadet."

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