Süddeutsche Zeitung

Ferrari in der Formel 1:Da Routine, dort gezielte Rotzigkeit

  • In Singapur kämpfen Sebastian Vettel und Charles Leclerc auch wieder um den Status als Nummer 1 bei Ferrari.
  • Für Vettel stellen sich Vertrauensfragen, in mehrerlei Hinsicht: Kann er seinem Dienstwagen vertrauen? Auf Ferrari? In Leclerc? In seine eigenen Fähigkeiten?
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Von Elmar Brümmer, Singapur

Es ist ein Satz aus der Dämmerung, der 53 Wochen alt ist, aber immer noch zutrifft, vielleicht mehr denn je: "Mein größter Feind bin ich selbst", sagte Sebastian Vettel vor dem Großen Preis von Singapur im vorigen Jahr. Damals war er bezogen auf seine Chancen, Lewis Hamilton den Weltmeistertitel wegzuschnappen. In diesem Jahr sitzt der Heppenheimer wieder unterm Riesenrad an der Marina Bay, die Lage ist ähnlich, nur dass sein Gegner jetzt Charles Leclerc heißt und sein Teamkollege ist. Das macht die Situation noch unangenehmer und noch gefährlicher für den WM-Fünften aus Heppenheim. Emotional gesehen jedenfalls.

Technisch hat sich innerhalb der Jahresfrist auch nicht viel verbessert. Noch so ein Satz vom Gestern ins Heute, der auf eine fortgesetzte Krise des deutschen Formel-1-Rennfahrers schließen lässt: "Gebt mir etwas in die Hände, womit ich spielen kann." Aber er hat jetzt wieder nur diesen SF 90 H, mit dessen Heck er nicht richtig klarkommt. Vettels persönliches Handicap kann sich auf dem unberechenbarsten Kurs der Saison ausgleichen - oder verstärken. Ferrari war zuletzt Siegerteam, ist diesmal aber nur Außenseiter, wegen der vielen langsamen Kurven. Unabhängig vom Ausgang des siebtletzten Rennens stellen sich für Vettel Vertrauensfragen, in mehrerlei Hinsicht: Kann er seinem Dienstwagen vertrauen? Auf Ferrari? In Leclerc? In seine eigenen Fähigkeiten?

Das grundsätzliche Vertrauen und der Status dürften immer noch erschüttert sein, nach dem, was beim Abschied der Formel-1-Serie aus Europa in Monza passiert ist. Erst fühlte er sich vom Teamkollegen in einer chaotischen Qualifikation hintergangen, dann unterlief ihm ein schwerer Fahrfehler im Rennen, schließlich erlöste Leclerc mit seinem zweiten Sieg binnen einer Woche die Ferraristi - und dann vergab Teamchef Mattia Binotto diesem auch noch alle Sünden. Das muss einen auch mit 32 Jahren immer noch überaus ehrgeizigen, viermaligen Weltmeister wütend machen. Doch das einzige, das im Pavillon des Rennstalls sichtlich brodelt, sind die Kühlaggregate; elf Kameras und rund 60 Reporter drängen sich, wo Platz für 20 ist. Die meisten kommen wegen Vettel. Lauert da doch eine Geschichte vom gefallenen Helden, und vielleicht ist ja doch irgendwas dran an den seit Wochen kursierenden Gerüchten vom Rücktritt. Ein paar kommen auch nur, um zu gucken, ob sich Charles Leclerc tatsächlich schon als Nummer 1 fühlt (tut er nicht, sagt er nicht).

"Oder habe ich irgendeine Katastrophe verpasst?"

Etwas blass, aber mit fester Stimme und einem zum Teil sogar vergnüglichen Tonfall kontert der viermalige Singapur-Sieger Vettel jede verbale Attacke. Lauter Ausweichmanöver auf Fragen wie der nach dem Platzhirschen, seiner schlimmsten Formel-1-Zeit, unangenehmen Gesprächen. Arbeitet er alle ordentlich ab, ohne konkreter zu werden. Irgendwann bricht es aber bei aller Sachlichkeit aus ihm heraus: "Es ist bestimmt nicht die beste Phase meiner Karriere. Aber sicher auch nicht die schlechteste, nicht der Tiefpunkt. Solche Phasen gehören dazu. Oder habe ich irgendeine Katastrophe verpasst?"

Nach der gezielten Relativierung verrät er über die Krisenbewältigung: "Ich gehe sehr, sehr kritisch mit mir selbst um. So habe ich mich in der Vergangenheit da immer rausgeboxt und werde das auch dieses Mal wieder schaffen. Es ist nicht großartig gelaufen - aber es war auch kein Desaster." Na ja. Allein, ihm bleibt nichts als der Hinweis an alle, die einen vorzeitigen Rücktritt nicht für ausgeschlossen halten: "Es ist auch nichts Mentales." Er fühle sich "bereit", denn da ist noch eine große Hoffnung: "Dass es früher oder später endlich ,Klick' macht, und die Dinge von da an besser laufen." Vettels ehemaliger Kollege Daniel Ricciardo unterstreicht das später in einem Plädoyer: "So einfach verlierst du dein Talent nicht in diesem Sport. Er braucht nur einen Erfolg, und schon ist er wieder da. Nach einem sieglosen Jahr 2014 mit mir bei Red Bull hat er im Jahr darauf gleich das zweite Rennen mit Ferrari gewonnen."

Hinten im Raum entsteht Unruhe. Leclerc drängelt sich durch die Menge, weil er seine Interviewtermine pünktlich erfüllen will, und weil er sie momentan mehr denn je genießt.

Vettel, der gerade noch bei der Bilanz seines Mentalhaushaltes ist, sieht den Rivalen, wittert Befreiung und sagt, ehe die Bohrerei weiter gehen kann: "Es wäre unhöflich, ihn warten zu lassen." Leclerc rutscht auf Vettels Stuhl, der 21-Jährige spricht wie er fährt: überlegt, clever, situationsbedingt reagierend, mit Verve. Am liebsten redet er davon, dass er trotz der neuen Rolle "ganz normal" geblieben sei, erzählt vom Fabrikbesuch in Maranello, lacht über Fotos aus dem Internet, in dem er mit einem Tattoo zu sehen war, das er in Wirklichkeit gar nicht hat stechen lassen. Das Bild, das er selbst gepostet hat, zeigt ihn auf einem Motorboot - selbstredend das Steuerrad lässig und zugleich fest in der Hand. Interpretationsfähig, wie alles gerade. Wer die kurzen Talkrunden der beiden Protagonisten miteinander vergleicht, kommt zum gleichen Ergebnis wie in der Analyse der Fahrstile: da Routine, dort gezielte Rotzigkeit. Das markiert die gegensätzlichen Vorgehensweisen im Kampf um die Nummer 1.

Wie intakt die beschworene Harmonie tatsächlich ist, kann sich schon in Singapur zeigen. Leclerc hat nicht nur eine eigene Interpretation der Regeln in Zweikämpfen, er hat sich zuletzt auch über Absprachen mit Vettel hinweggesetzt. Binotto mag ihm dafür vergeben haben, aber Vettel hat für solche Respektlosigkeiten ein Elefantengedächtnis. "Er hat ein paar Zweifel über meine Fahrweise geäußert. Ich habe mich ihm erklärt. Damit ist der Fall aus der Welt", sagt der Kontrahent über die Aussprache.

Doch der Erfolg deckt Charles Leclerc, und er deckt vieles zu. Mal helfe er Vettel, mal umgekehrt, sagt der Aufsteiger pragmatisch und behauptet: "Man muss mehr Teamplayer sein als Egoist, das zahlt sich am Ende aus." Klingt nett, aber dann nimmt sich der Monegasse eine entscheidende Einschränkung heraus: "In manchen Situationen muss man stärker auf sich selbst gucken."

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Quelle:
SZ vom 21.09.2019/tbr
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